Garantiert kein Fernsehkabarett
von Franziska Schneider, publiziert in FREIDENKER Nr. 1-23
„Das politische Kabarett in Deutschland hat seit mehr als 40 Jahren einen Namen: Dietrich Kittner.“
(Stuttgarter Nachrichten)
Dietrich Kittner hat zu Beginn seiner kabarettistischen Laufbahn ganz sicher gelitten, das geht aus seinen Büchern und CDs hervor. Damals hatte das Fernsehen noch einen anderen Stellenwert in Gesellschaft und Politik. Wer nicht im Fernsehen war, existierte nicht. Dietrich Kittner lief nicht im Fernsehen und existierte trotzdem. Aber der Reihe nach.
Es gab kein offizielles Fernsehverbot, zumindest nicht schwarz-auf-weiß. Aber trotzdem wusste es jeder: Seine systemkritischen Aussagen waren eben nicht systemkompatibel. Denn mal ehrlich, wer möchte sich schon gerne bei solchen Programmtiteln unangenehm auf den Schlips getreten fühlen? „Droge Deutschland“ oder „Das Ei des Kohlumbus“, das hätte dem Bundeskanzler bestimmt nicht gefallen, und so manche (nicht mehr) Intendantin einer öffentlich rechtlichen Fernsehanstalt hätte bei dem Titel „Hai-Society oder kein Grund zur Beruhigung“ einen Schweißausbruch und schlaflose Nächte bekommen. „Politiker gehen in Deckung, wenn sie den Namen Dietrich Kittner hören“, schrieb der Norddeutsche Rundfunk einmal sehr treffend über ihn.
„Er ist Inhaber des anerkannt schlimmsten Schandmauls. Und er redet Fraktur. So laut und so schnellfeuerartig, daß Anstoßnehmer das Mitstenographieren seiner Unbotmäßigkeiten lang schon aufgegeben haben.“
(Münchner Merkur)
Dietrich Kittner, so sagte er selbst, war das „rote Schaf“ in der Familie. Bürgerliches Gerechtigkeitsdenken waren ihm genauso in die Wiege gelegt, wie der politische Drang und seine Sprachbasteleien. Er war Jahrgang 1935, konnte über den Zweiten Weltkrieg und den Faschismus aus den eigenen – oft schockierenden – Erinnerungen berichten. Vielleicht schrieb er deshalb auch seine Abiturabschlussarbeit zu der Fragestellung „Gibt es Grenzen der Toleranz?“ Ja, gibt es, sagte er, nämlich dort, wo Verbrechen toleriert wird. Zu empfehlen sind unter dem Stichpunkt Verbrechen auch seine Bücher „Kleine Morde, große Morde, deutsche Morde“ und „Aus meinem Kriegstagebuch. Beobachtungen zum Balkankrieg“.
Sein „Studium der Rechten“, wie er es selbst nannte, und Geschichte in Göttingen hing er alsbald an den Nagel, gründete aber vorher noch 1960 das „Göttinger Studenten- und Dilettanten-Kabarett DIE LEID-ARTIKLER“. Seit 1966 war sein Solokabarett in Hannover angesiedelt. In der BRD war seine Fernsehkarriere schon 1972 beendet, da hatte er seinen letzten Auftritt mit einem Solo Programm. Aber warum?
„….einen Schocker, einen spitzen, aber haarscharf treffenden Angriff nach dem anderen. Es geht in seinem Mammutprogramm Schlag auf Schlag. Einen langen Abend hatte er versprochen, und Kittner hält, was er verspricht, 3 volle Stunden. Er ist bissig, böse, schlagfertig, hochaktuell, trifft den Kern und kennt kein Pardon.“
(Süddeutsche Zeitung)
Seine Vorstellungen waren medientauglich und auch nicht. Sein künstlerisches Können hätten ihm auf jeden Fall ins Fernsehen und ins Radio gebracht. Nur zwei Eigenschaften Dietrichs haben das verhindert. Die banalere, erste Angelegenheit, waren seine Vorstellungslängen. Mit einem Drei-Stunden Programm hat er seinen live Zuhörern ordentlich was abverlangt. In Zeiten von TikTok, Instagram und Facebook ist das kaum noch vorstellbar. Obwohl es auch Nummern gab, die in knackigen 3-5 Minuten auch auf Social Media Plattformen (gekürzt) laufen könnten. Das hätte er ganz sicher ausräumen können. Doch das musste er nicht, weil seine zweite Eigenschaft es nicht erforderlich machte. Er ließ sich nichts verbieten, nichts vorschreiben. Er hätte auch heute nicht beim politischen Greenwashing mitgemacht und wäre ganz bestimmt nicht auf die Kriegspropaganda reingefallen und den Russenhass-Zug aufgesprungen.
Nur weil er in Radio und Fernsehen nicht vorkam, existierte er entgegen der gängigen Formel trotz alledem. Vermutlich sagte er sich, in Fernsehanstalten, die transnationalistischen Leadern mehr Aufmerksamkeit schenken als kongolesischen Minenarbeitern, habe er eh nichts zu suchen. Wer will schon gerne das Feigenblatt, der Quoten-Linke oder Querdenker sein?
„Wahrscheinlich ist die Ein-Mann-Show des engagierten Linken heutzutage das Beste, was das im allgemeinen recht kleinlaut gewordene deutsche Kabarett zu bieten hat.“
(Westdeutscher Rundfunk)
Dietrich war ein Einzelkämpfer. Obwohl seine Frau Christel und seine Freunde zu ihm standen, öffentlich wurde er als Partisan im Feindesland wahrgenommen, der den Herrschenden an den Kragen ging. Dieter Dehm schrieb in seinem Nachruf 2013: „Aber so realpolitisch war Kittner, daß auch ihn zuweilen schmerzte, so gar nicht in Medien zu existieren. Der ‚alte Haudegen‘, wie Kollegen fraternisierten, war genauso verletzbar wie die schulterklopfenden Träger von Kunstpreisen, wovon er in einem halben Jahrhundert ganze drei (bürgerlich-) nennenswerte erhalten hatte. Auch die wenig gewordenen Linken in den Medien haben sich für ihn selten aus der Deckung gewagt. Zu bequem war die Ausrede, er wolle es ja selbst nicht anders.“
In einem Interview mit einer Schülerzeitung im Jahr 1988 vor und nach seinem Programmabend fragte er die Kids: Was nützt das liberalste Pressefreiheitsgesetz, wenn daneben Holtzbrinck und Springer sind? Demokratie, erklärte er, geht nur, wenn wirtschaftliche Macht nicht zur politischen Macht wird. Für ihn war der Sozialismus die richtige Fahrkarte in die Zukunft, was nicht bedeutet, dass man immer noch in den falschen Zug steigen oder den Bahnsteig verwechseln kann. Er sah den Sozialismus als das grundsätzlich gerechtere System, hielt den Kapitalismus auf Dauer für nicht überlebensfähig und mahnte: „Der Faschismus ist die Notbremse des Kapitalismus“.
„Er hat einfach was, dieser Kittner: Etwas altmodisches Aufrichtiges, eine Stinkwut im Bauch und außerdem eine enorme Bühnenpräsenz.“
(Süddeutsche Zeitung)
Links gemeinte Attitüden waren nicht sein Ding, er lebte seine Überzeugung, seine politische Standhaftigkeit. Mit den Mainstream-Linken hätte er vermutlich jetzt viel Arbeit. Er hat sich weder von einer Partei verbiegen lassen, noch dafür, geschniegelt mit einem Grinsen ins Fernsehen zu kommen. Wer nicht in den Medien vorkommt, hat mehr Zeit für sein Publikum. Günter Wallraff schrieb in seinem Nachruf: „Kittners Programm bietet Satire statt Blödelei, Ironie statt Veralberung, Gegeninformation und Aufklärung statt Phrase und Gag. Sein hintergründiger Humor ist nicht auf vorschnellen Beifall aus. Auch manche Linken – für die Lachen an sich oft schon Frevel und Sakrileg ist – können von Kittner lernen. Er bringt die Leute an den richtigen Stellen zum Lachen, das heißt auf Kosten der Richtigen.“
„Nicht nur das politischste, sondern auch das intellektuellste Kabarett hierzulande.“
(Stuttgarter Nachrichten)
Später sah er es auch als Luxus an, nicht mit Redakteuren, Programmdirektoren oder Intendanten über Buchstaben, neutrale Wortendungen oder seinen roten Schal reden zu müssen, inhaltlich hätten sie ihm vermutlich nicht das Wasser reichen können. Denn, wie Günter Wallraff folgert: „Er gehört zu den gewiß nicht zahlreichen politischen Aufklärern in unserem Land, denen es gelingt, die von Brecht bezeichneten ‚Fünf Schwierigkeiten beim Verbreiten der Wahrheit‘ zu überwinden. Er hat den Mut, ‚die Wahrheit zu sagen, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten‘.“
Er hat also den Kopf statt der Hände hochgehalten und aus der Verbannung im Fernsehprogramm einen Nutzen gezogen. Auf einem CD Booklet stand sogar der Hinweis in Großbuchstaben: „GARANTIERT KEIN FERNSEHKABARETT“ oder auch „unzensiert“ als Prädikat. Christel Kittner schrieb in einem Einleitungstext eines Booklets: „Daß Dietrich Kittner im Fernsehen nur selten zu erleben ist, kann man nicht als Minuspunkt werten, jedenfalls nicht für den Vollblutkabarettisten. Im Gegenteil: eher als Gütesiegel. Seit über 35 Jahren sagt er nämlich mit Fleiß und Bravour genau das, was tunlichst nicht auf die Glotze darf.“
„Deutschlands scharfzüngigster und unbequemster Kabarettist. Dieser Kittner ist ein Ereignis.“
(Neue Presse Hannover)
Dietrich war immer eine Wucht, eine wandelnde Enzyklopädie mit spitzem Stift, der Waffe des Pazifisten. Er agitierte, bis der Kaiser nackt und vom demokratischen Parlament nicht mehr viel übrig war. Recherchen, Analysen und Argumente waren seine schwersten Geschütze. Aufklärung im Sinne Voltaires, dessen Büste nicht zur Abschreckung von Briefeschreibern und Postboten auf dem Postkasten des Hollerhofes, dem Zweitwohnsitz in der Steiermark der Kittners, thront. Sein Ziel: Vom Ist-Zustand zum Soll-Zustand, er diagnostizierte die Gesellschaft und zeigte den Weg aus der vermeintlichen Alternativlosigkeit. Aktualität hatte bei ihm oberste Priorität, jedoch immer auf Fundament gebaut. Das heißt, er konnte historisch und politisch einordnen, runterbrechen und auf die Spitze treiben.
Die herrschenden Leitmedien sind die Medien der Herrschenden. Aus Funk und Fernsehen verbannt, das waren seine Programme. Wenn andere sagten, er solle leiser sein, wurde er lauter. Man könne schließlich nicht im Fernsehen zum Sturz des Fernsehens aufrufen. Da kaum ein Sender sein Kabarett brachte, musste er selbst das Medium sein. So sind die Kittners zu den Menschen gefahren – das bezeugen die jährlich zwischen 190 und 220 Soloauftritte im eigenen Theater und auf Tour. Neben seinem Kabarett war er auch noch ständiger Mitarbeiter und Mitherausgeber des Ossietzky, der zweiwöchigen Zeitschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft. Gegenmedien, ein Begriff, der heute auch schon einen Stempel trägt und gecancelt wird.
„Der Großmeister der Kleinkunst“
(Eulenspiegel, Berlin)
Seine Kleinkunsttheater in Hannover, das (Wohnzimmer-)Theater an der Bult (tab) und später das Theater am Küchengarten (tak), waren auch ohne städtische Subventionen immer ausverkauft. Wobei ihn und Christel, wie neueste Aufnahmen zeigen, die zu geringen oder nicht erfolgten Subventionen schon sehr bedrückten. Seine Theater in Hannover finanzierte er durch die Tourneen, er wollte seine Karten nicht höherpreisig verkaufen, denn er hätte es jenen ungerecht gegenüber empfunden, die sich dann keinen Theaterbesuch mehr hätten leisten können.
Obwohl er in den Medien gemieden wurde, nahmen sie ihn doch in einer ganz anderen Weise ein. Hätte sich Dietrich nicht für ein Kabarettistenleben entschieden, dann wäre er vielleicht Archivar, Bibliothekar oder Dokumentarist geworden. Obwohl er eigentlich – und das ist nicht gelogen – alles im Kopf hatte, legte er Zeitungs- und Videoarchive an, dass einem das Staunen kommt. Was Social Media heute ungefragt mit seinen Nutzern macht, hat Dietrich akribisch für sich selbst betrieben, hat das Mainzer Kabarett Archiv gefüllt und jedes seiner Programme aufgenommen und publiziert. Influencer wissen heute zwar bestens über Selfie und Product Placement Bescheid, in der entscheiden Situation Stellung zu beziehen, wissen die Meisten aber nicht. Auch die Frequenz, in der Dietrich seine über 30 Solo-Programme auf die Bühne brachte, war beachtlich. Ausgleichend gilt es zu sagen, dass Dietrich bis an sein Lebensende dennoch viel mit „der Jugend“ gemein hatte. Er mochte früh aufstehen gar nicht. Allerdings hatte er handfeste, berufliche Gründe dafür.
„Kittner ist ein wichtiges Unikat in der Kabarettszene. Ein kabarettistischer Gesinnungstäter zwar, aber mit plattem Gesinnungsbeifall hat er nichts im Sinn.“
(Nürnberger Nachrichten)
Fleißige Medienkonsumenten mögen jetzt zurecht fragen: Ja, ja, aber wenn Dietrich nicht auf der Bühne war, dann war er bestimmt wie alle anderen Medienstars und -sternchen und zählte seine eigenen Schafe? Nein. Er ging mit demonstrieren, spielte ohne Gage auf Demos, kurz: Er trat auf Brennpunkten politischer Meinungsbildung auf. Er initiierte die Rote-Punkt-Aktion gegen die Hannoveraner Fahrpreiserhöhungen, machte Kabarett von unten für unten und half den Nachbarn in der Steiermark, wenn Not am Mann war am Gehöft. Er reparierte selbst seinen Rasenmäher Flummi, schraubte an seinem Auto rum und bastelte leidenschaftlich an seinem Bühnen- und Technik-Equipment. Er war authentisch, so wie Elke Kahr und Ernest Kaltenegger von der KPÖ in Graz. Deshalb ist es Letztgenanntem auch zu verdanken, dass es eine lebende Kittner Stiftung gibt, die sich um das kulturelle Erbe und den Hollerhof der Kittners kümmert.
Die Kittners. Zusammen machten sie alles. Ihr Beruf war kein Job, sondern ihr Leben. Oder ihr Leben war ihre Berufung. Besonders gut kann dies noch auf dem Hollerhof nachempfunden werden. Der Dreiseitenhof bietet damals wie heute drei politisch-korrekt eingerichtete Ferienwohnungen an. Dort leben Kittners immer noch in jedem Detail.
Dietrich, Christel, ihr fehlt!
Quellen der Pressestimmen und Zitate:
Aus dem Booklets „Hai-Society“, „Kittner Live. Das 22. Programm“, „live 4 ‚Sehr geehrte Drecksau‘“, „Progressive Nostalgie. Die frühen Jahre.“, „Droge Deutschland“ sowie aus dem postum erschienen Buch „Aus dem Leben eines Glaubenichts“