Kontrollierte Erinnerung als Machtmittel
Lesetipp: „Ruanda 1994 bis heute – Vom Umgang mit einem Völkermord“
Es war eine kurze Meldung in verschiedenen Medien: Frankreich trägt Mitverantwortung am Völkermord in Ruanda des Jahres 1994. Zu diesem Ergebnis kam im Frühjahr 2021 eine 2019 durch die französische Regierung eingesetzte wissenschaftliche Kommission nach Überprüfung einer vierstelligen Zahl von Akten. Die ehemalige Schutzmacht des ostafrikanischen Landes habe die damalige Regierung von Ruanda weiter unterstützt, obwohl ihr hätte klar sein müssen, was dort droht.
Fragen von Verantwortung und Schuld am Mord an etwa 800.000 Menschen mussten sich die Überlebenden in Ruanda viel eher stellen, als die französische Republik heute. Denn wie wollten sie weiter leben in diesem kleinen Land, das so zerrüttet und gespalten war, nachdem unter den knapp mehr als 12 Millionen Einwohnern ein riesiger Anteil Blut vergossen hatte, so viele Menschen fehlten?
Ruanda wird heute häufig als Musterbeispiel für die Aufarbeitung von Verbrechen, für die Übernahme von Verantwortung und letztlich den gesellschaftlichen Ausgleich zwischen einst rivalisierenden Gruppen gesehen. Eine aufstrebende Wirtschaft und politische Stabilität über viele Jahre verstärken das Bild eines Staatsvolkes, das binnen kürzester Zeit nicht nur aus der Vergangenheit gelernt hat, sondern zudem die richtigen Schlüsse zog. Ende gut, alles gut?
Einen differenzierteren Blick darauf wirft ein Mann, der die Entwicklung seit Jahren begleitet. Gerd Hankel, Jurist, Übersetzer und freier Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung sowie wissenschaftlicher Angestellter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, ist ein ausgewiesener Experte für den afrikanischen Kontinent. Der Autor vieler Beiträge zum humanitären Völkerrecht, zum Völkerstrafrecht und zum Völkermord in Ruanda untersucht seit 2002 dessen juristische Aufarbeitung.
„Ruanda. Leben und Neuaufbau nach dem Völkermord. Wie Geschichte gemacht und zur offiziellen Wahrheit wird“ heißt sein wissenschaftliches Werk von 2016. Mit „Ruanda 1994 bis heute – Vom Umgang mit dem Völkermord“ lieferte Hankel 2019 eine verkürzte Fassung für ein nichtwissenschaftliches Publikum, die bei inhaltlicher Vollständigkeit ebenfalls verdeutlicht, was über die Entwicklungen in Ruanda unbedingt gesagt und gehört werden muss.
Der Leser wird hier ganz nah herangeführt an die Entstehung des ethnischen Konfliktes, an die Erinnerungskultur im Land, an die Veränderungen im Umgang mit dem Genozid und eben auch an die weltweit als beispielhaft geltende juristische Aufarbeitung. Die „Gacaca-Justiz“ machte Laien zu Richtern und überzog das Land über Jahre hinweg bis in die kleinsten Dörfer mit Gerichtshöfen jenseits der klassischen Strafverfolgung. Sehr verschiedene Menschen geben in dem Buch Einblicke aus erster Hand. Vom Dorfbewohner bis zum Politiker. Das verleiht dem Werk eine große Ernsthaftigkeit, macht das Geschehen nachvollziehbar und lockt den Leser geschickt in die Falle, deren Funktionsweise Hankel aufzeigen will.
Als 1994 die Angehörigen der Tutsi-Minderheit sowie gemäßigte Hutu zu Hunderttausenden ermordet wurden, das Land sich im wahrsten Sinne im Blutrausch befand, da gab es einen Weg, der dahin geführt hatte, einen Weg hindurch und einen Weg hinaus. Es gab Machtinteressen und Strategien, es gab politische und wirtschaftliche Zielsetzungen. Hankel beschreibt all das im Detail und macht glaubhaft, wie nach dem Genozid eine neue Ordnung entstand, die eben auch bis heute regelt, wie die Vergangenheit zu sehen ist. Die daraus eine letztlich moralisch gefärbte Gesellschaft geformt hat, in der Bekenntnis und Zustimmung vorausgesetzt, in der Abweichungen verfolgt werden. Die Deutungsautorität wurde, so beschreibt es der Völkerrechtler Hankel, gezielt aufgebaut und überdeckt in der Folge staatlich legitimiertes Unrecht.
Gut beschrieben wird das am Heldenkult der ruandischen Gegenwart. Nach aktueller Lesart ist ein Held nicht mehr nur jemand, der damals das Morden verweigerte oder Verfolgte rettete. Er muss jetzt auch jemand sein, der die heutige ruandische Regierungspolitik nicht kritisiert. Der prominenteste Fall ist der des ehemaligen Hotelmanagers Paul Rusesabagina, der im Jahr 1994 Hunderte Menschen vor dem Tod rettete. Eine Tat, die im Jahr 2004 mit dem Hollywoodfilm „Hotel Ruanda“ geadelt wurde. Als Rusesabagina allerdings begann, die heutigen Verhältnisse in Ruanda öffentlich kritisch zu kommentieren, wurde das Bild von ihm praktisch über Nacht in sein Gegenteil verkehrt. Aktuell sitzt er in der ruandischen Hauptstadt Kigali in Haft, ein Prozess gegen ihn wird vorbereitet. Die Tatvorwürfe lauten unter anderem Terrorismus, Mord, Entführung und Brandstiftung. Der Weg vom Widerstandskämpfer zum Terroristen ist auch in Ruanda nicht weit.
Wohltuend unaufgeregt, sachlich und an Fakten orientiert schildert Gerd Hankel das Geschehen in Ruanda damals, später und heute. Die Frage „Wieviel Unrecht verträgt der Fortschritt?“ erspart er seinem Publikum jedoch nicht. Und er gibt jede Menge Raum zum Weiterdenken. Bei Lichte betrachtet ist sein Werk nicht nur auf Ruanda bezogen, sondern eine Beweisführung über Schein und Sein, über Wahrnehmung und Manipulation.
Ein Vorwurf, der nicht nur gegenüber Bürgern von Staaten zulässig ist, sondern auch gegenüber deren Lenkern. Was sich Ruanda in den letzten Jahren gegenüber anderen Ländern oder der UNO herausnehmen durfte, das kann nur mit dem liebevoll gepflegten positiven Image erklärt werden, von dem die aktuelle Regierung unter Paul Kagame so trefflich lebt. Ein Muster, das auch andernorts effektiv funktioniert. Beispielhaft zu erkennen an Israel, dessen fortgesetzte Völkerrechtsverletzungen schon deshalb nie ernsthaft sanktioniert werden, weil ein erlernter Schuldreflex gegenüber jüdischen Menschen den „Westen“ daran hindert.