Fällt aus!
Herausforderung Zionismus – Alternativen für Israel in Palästina
Prof. Dr. Hannah Arendt (The New School, N.Y.)
Gasteig München, 2020
Oder doch nicht?
Gastbeitrag von Sebastian Scheerer, 23.12.2020
Ob die moralische Instanz namens Hannah Arendt im heutigen Deutschland willkommen wäre, ist dieser Tage Gegenstand einer hochkarätig besetzten Kontroverse. Weder Susan Neiman ist einfach irgend jemand – noch lässt sich das von Jürgen Kaube sagen. Die Angelegenheit ist Chefsache. Und das aus gutem Grund.
Die Philosophie-Professorin Neiman (Yale, Tel Aviv) amtiert seit dem Jahr 2000 als Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Sie kennt die USA. Sie kennt Israel. Und sie kennt inzwischen auch das Land, in dem Hannah Arendt bis 1933 lebte. Wenn sie sich über Deutschland sorgt, sollte man nicht weghören. Angesichts der unübersehbaren Häufung peinlicher Misstöne und Zensurversuche, die von einer ins Diffuse erweiterten Vorstellung von Antisemitismus ebenso befeuert wurden wie von der präzedenzlosen „Anti-BDS-Resolution“ des Deutschen Bundestags – die allgemein bekannten Stichworte dazu haben so klangvolle Namen wie Villa Ichon, Jüdisches Museum, Ruhrtriennale und Reiner Bernstein, aber auch viele etwas weniger geläufige wie School for Unlearning Zionism – befürchtet Neiman, dass heutzutage allgemein hochverehrte Hannah Arendt wohl kaum noch eingeladen werden könnte – oder aber mit einer plötzlichen Ausladung rechnen müsste.
Jürgen Kaube hält Neimans These für absurd. Der große Intellektuelle und Herausgeber der international renommierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung sieht die Meinungsfreiheit in Deutschland nicht in Gefahr. Hat nicht Omri Boehm hier diskutieren können? Und wo habe Kritik an Israel jemals zu Ausladungen in Kunst oder Wissenschaft geführt? Und werde nicht sogar die Anti-BDS-Resolution des Deutschen Bundestags immer wieder von Verwaltungsgerichten unterlaufen? Offensichtlich wolle Neiman ihr Publikum für „dumm“ verkaufen und habe Arendts und Einsteins offenen Brief von 1948, auf den sie sich berufe, womöglich nicht einmal gelesen – denn sonst hätte sie statt „vier“ doch „neun“ gesagt.
Kaube wäre nicht der bekannte Hegel-Experte, verfügte er nicht auch über Fertigkeiten im dialektischen Florett. Zwar habe Arendt 1948 die Politik Menachem Begins und seiner damaligen Partei mit Recht als faschistisch und terroristisch qualifiziert, doch habe sie eben eine damalige Opposition kritisiert und keine Regierung – und jedenfalls, anders als BDS heutzutage, nicht vom Ende des Staates Israel geträumt. Deshalb sei es grotesk, sie gewissermaßen nachträglich zu einer BDS-Unterstützerin machen zu wollen und damit in die Nähe der heutigen Veranstaltungsverbote für BDS-Events zu rücken.
Liest man nur Kaube, denkt man unwillkürlich an Theaterdonner – alles nur ein Spektakel um des Spektakels willen?
Doch nichts könnte weiter in die Irre führen. Arendt hatte weder Angst davor, eine Regierung zu kritisieren noch hatte sie Furcht vor Beifall von der falschen Seite. Sie würde für die Gaza-Kriege keine anderen Worte wählen als damals – ohne damit jemals etwas gegen die Existenz Israels als Staat einzuwenden. Sie würde ihn nur lieber – gemessen an ihrer politischen Ethik – anders haben. Mit vielen Palästinensern und auch mit der BDS-Kampagne ergäben sich Schnittstellen und eine gleichbegründete und gleichgerichtete Empörung. Dem Druck zur Distanzierung würde sie sich entgegenstellen: welch kluger Kopf würde sich dadurch die eigene Bewegungsfreiheit nehmen lassen. Kein Zweifel: ihr Name stünde unter mancher Verlautbarung, die mit den offiziellen – ausdrücklich gegen jeden Rassismus und gegen jeden Antisemitismus gerichteten – Postulaten der Kampagne übereinstimmten.
Anders als gelegentlich kolportiert steht BDS nicht für Judenhass und Vernichtungsphantasien, sondern fordert Geltung des Völkerrechts: gleiche Bürgerrechte, Gerechtigkeit für die Vertriebenen und das Ende des Besatzungsregimes. Man kann sich leicht vorstellen, dass Arendt sich zu Michael Wolffsohns These vom antisemitischen Charakter dieser Forderungen mit einem argumentum ad absurdum zu Wort melden und damit erst recht in das Visier der Cancel Culture käme: wenn die Forderung nach der Geltung des Völkerrechts schon als Antisemitismus diffamiert wird – wären wir dann nicht sogar verpflichtet, uns dieses Etikett anheften zu lassen?
In Deutschland herrscht seit Jahren, zunächst unbemerkt, das, was Micha Brumlik als neuen McCarthyismus kritisierte und die israelische Zeitung Ha’aretz als Hexenjagd auf BDS-Sympathisanten oder angebliche Sympathisanten beschrieb. Es gerät aus dem Blick, dass es in Rechtsstaaten immer möglich sein muss, gegen Menschenrechtsverletzungen zu argumentieren und notfalls auch zu Boykotten aufzurufen. Was daraus wird, ist dann immer noch eine andere Frage. Aber die politische Meinungsäußerung ist geschützt. Das gilt natürlich auch für BDS – und zwar um so mehr, als diese Bewegung gerade explizit gegen jeden Rassismus und Antisemitismus Stellung nimmt, ausschließlich auf friedliche Mittel setzt (was im Nahen Osten nicht selbstverständlich ist) – und die Existenz Israels nicht in Frage stellt. Die von BDS geforderte Anerkennung des Rechts der Vertriebenen auf Rückkehr als antisemitisch zu bezeichnen, ist schon deshalb verwegen, weil die Anerkennung noch lange nicht die Rückkehr bedeutet, sondern zunächst einmal einen Ausgangspunkt für gerechte Lösungsversuche (Entschädigung usw.) darstellte. Deswegen war es ja auch nicht böswillig oder ignorant, sondern schlicht der Blick in das Grundgesetz, der die Verwaltungsgerichte bewogen hatte, hier und da immer mal wieder den BDS-Boykott des Bundestags und seiner Helfer in den Kommunen für verfassungswidrig zu erklären.
Stellen wir uns vor, Hannah Arendt wollte heutzutage mit (BDS-Mitgründer) Omar Barghouti und (Pink-Floyd-Mitgründer) Roger Waters im Einstein Forum in Potsdam bei Susan Neiman oder auch im Münchener Kulturzentrum Gasteig mit Reiner Bernstein oder Abraham Melzer die Siedlungspolitik Netanjahus im Lichte der politischen Ethik problematisieren. Wäre das überhaupt denkbar?
Prof. em. Dr. Sebastian Scheerer,
emeritierter Professor für Kriminologie an der Universität Hamburg und ehemaliger Direktor des Instituts für Kriminologische Sozialforschung
Es würde wohl passieren, was sich regelmäßig ereignet, wenn bekannte Kritiker der israelischen Siedlungs- und Besatzungspolitik sich zu Wort melden wollen. Eine konzertierte Aktion von Online-Plattformen („Honestly Concerned e.V.“, „Ruhrbarone“ etc.), der Jerusalem Post und konservativer jüdischer Gemeinden würde die rote BDS-Warnstufe ausrufen und vielleicht auch noch mit Hilfe des Zentralrats der Juden Druck ausüben – womöglich flankiert vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. In der Regel werden dann bereits zugesagte Räumlichkeiten an öffentlichen Veranstaltungsorten gekündigt, Verträge verweigert, Einladungen widerrufen und Entschuldigungen herausgewürgt oder auch nicht. Beispiele gibt es in Hülle und Fülle – doch nur in der Realität, nicht in der FAZ, der ZEIT, der SZ, wo die gatekeeper auch nur ihre Arbeit machen.
Warum dauerte es bis zu dieser Diskussion zwischen Susan Neiman und Jürgen Kaube, genauer bis zum 21. Dezember 2020, bis die Öffentlichkeit von Hanno Loewy (nun doch in der FAZ) darüber aufgeklärt wurde, dass die Anti-BDS-Kampagne nicht nur schon 2017 vor allem die Ausladung des ehemaligen Knesset-Präsidenten Avraham Burg aus der Akademie Tutzing veranlasst, sondern seither dutzendweise Veranstaltungen mit deutschen und israelischen Juden getroffen hat – und damit mehr, als es der von BDS beabsichtigte Boykott (der in Deutschland nie eine Rolle spielte) jemals hätte tun können?
Erst seit Neimans Wortmeldung kritisiert nun auch die Süddeutsche Zeitung (in einem Beitrag von Ronen Steinke vom 11. Dezember) auf Samtpfoten einen Beschluss des Münchener Stadtrats aus dem Jahre 2017, BDS-Veranstaltungen und -Thematisierungen zu verbieten – und darüber hinaus auch keine Diskussionen über dieses Verbot zuzulassen, weil ja auch eine solche Veranstaltung wohl kaum ohne Erwähnung von BDS auskäme. Dass die Verwaltungsgerichte eine so hanebüchene Meta-Verbots-Politik angesichts der klaren Aussagen der Verfassung nicht gutheißen konnten, war eigentlich von Beginn an klar. Und so konnte, wer Geld, Nerven und Optimismus in Hülle und Fülle besaß, seit einiger Zeit (und jeweils mit langer Verspätung) auch einmal eine Diskussionsveranstaltung durchsetzen. Doch genau das hat System. Die Stadt stellte sich auch Ende 2020 noch stur, als endlich auch der Bayrische Verfassungsgerichtshof die Verfassungswidrigkeit der Zensurpolitik festellte. Denn nun beschloss der Stadtrat, trotz der von Fachleuten konstatierten Aussichtslosigkeit eines weiteren Gangs durch die Instanzen, in Revision zu gehen. Der Vorteil für die Zensurfanatiker: München kann contra legem so lange weitermachen, bis es gar nicht mehr anders geht. Und viele Veranstaltungen geraten angesichts der absehbaren Hindernisse gar nicht erst in das oder aus dem Planungsstadium.
Hannah Arendt war eine kluge, kundige und furchtlose Denkerin, die nie irgendwelche Anstalten machte, vor der tribalistischen Ethik einiger ihrer Zeitgenossen einzuknicken. Es spricht kaum etwas dafür, dass sich das gegen Ende ihres Leben geändert hätte. Oder heute anders wäre. Sie würde wohl gut mit den Leuten vom BDS, von Breaking the Silence und der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost auskommen. Sie würde auch manche Stellungnahmen unterschreiben: meinungsfreudig, lebendig, streitbar. Und sie würde sich wundern, plötzlich ausgeladen zu werden, weil sie sich der BDS-Unterstützung schuldig gemacht und damit als Feindin Israels und bewusste oder unbewusste Antisemitin entlarvt hätte.
Ich stelle mir gerne vor, sie hätte sich ihre sympathische Unvoreingenommenheit bewahrt. Entgeistert würde sie dann antworten: wisst ihr denn nicht, dass sich in Israel vieles ändern muss – nicht, weil ich ihn abschaffen will, sondern weil ich weiß, dass dieser Staat nur im Einklang mit dem Völkerrecht auf Dauer existieren kann? Wisst ihr denn nicht, dass es zwei Paar Schuhe sind, ob ich sage „Kauft nicht beim Juden“ (Nazis) oder ich auf Produkte aus den besetzten Gebieten aufmerksam mache, die illegalerweise als „Made in Israel“ etikettiert werden, und dass Ersteres sich gegen Juden als Juden richtet und damit antisemitisch ist, während die „Don’t-buy“-Etiketten des BDS sich gegen eine politische Manipulation durch einen konkreten Staat – und nicht gegen alle Juden als Juden – richten, so wie sich die entsprechenden Aufkleber zur Zeit der südafrikanischen Apartheid auch nicht gegen den Staat als solchen, sondern gegen seine Apartheid-Politik richteten?
Ob Arendt heute eine Chance hätte? Eher nicht. Wenn sie, was zu erwarten wäre, von den Taten und Untaten der Netanjahu-Regierung nicht schwiege und sich womöglich ähnlich klar ausdrückte wie 1948, könnte sie (und könnten sich vor allem auch die Einladenden) auf einen der inzwischen üblichen Stürme im Internet gefasst machen. Befeuert von selbsternannten „Freunden Israels“ in den großen Parteien wie auch in der FDP, von Antisemitismusbeauftragten, israelischen Ministerien, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, konservativen jüdischen Gemeinden und dem Zentralrat der Juden.
Hannah Arendt und ihre Umgebung hätten nicht nur mit diskursivem Gegenwind zu rechnen, wie er für freiheitliche Rechtsstaaten typisch und wünschbar ist. Sie hätten mit Schwierigkeiten zu rechnen wie so viele Veranstalter und Referenten – sei es in Berlin, Frankfurt, München oder Tutzing – die in der neuentstandenen Kultur des Verdachts seit nunmehr wohl rund drei oder vier Jahren immer stärker unter Druck gerieten oder zensiert wurden. Die richtige Bezeichnung für diese neue Praxis ist nicht Widerrede und auch nicht Gegenwind, sondern Verhinderung von Meinungsäußerung. Und das nennt man auch Zensur. Heuer wäre die offiziell so verehrte Philosophin wohl überrascht, ausgerechnet von höchsten Stellen – sozusagen einem ideellen dostojewskischen Großinquisitor – gesagt zu bekommen, dass ihr Vortrag womöglich erhebliche Aufregung … und Verständnis bitten … die Lage …ich möchte es in aller Klarheit sagen, wohl nun doch ausfallen müsse. Es sei einfach nicht zu verantworten. Nein, mit der Redefreiheit habe das nichts zu tun.
Keine schönen Aussichten für eine Frau, der man durch Sonderbriefmarken, Kinofilme und Festtagsansprachen sonst nur die schönsten Kränze zu flechten pflegt. Mit ihrer universalistischen Ethik und furchtlosen Zionismus-Kritik hätte die als politisch-moralische Instanz vielzitierte Denkerin angesichts der aus dem Ruder geratenen Bekämpfung von Israelkritik hierzulande heutzutage aber keine Chance mehr. Das ist keine absurde Behauptung, das ist die Lage.
Und was bedeutet diese Lage für uns heute? Vielleicht sollten wir die Artikel 1-5 einmal in Ruhe studieren. Nicht wir befinden uns in Lebensgefahr. Wohl aber unsere Freiheit zu denken und zu sagen, was wir meinen.