Die Sicherungsverwahrung im politischen und medialen Gebrauch (Teil 2)
Erkenntnisse einer Medieninhaltsanalyse
Von Franziska Schneider
Marxistische Blätter 1-24, S. 133-140
Das Statistische Bundesamt konstatierte für das gesamte Jahr 2022 im Durchschnitt etwas mehr als 600 Sicherungsverwahrte. 1996 waren es lediglich 176. Schwere Gewalt- und Sexualkriminalität hatte jedoch nicht zugenommen. Dazwischen kam es zu acht bundesrechtlichen Gesetzesänderungen der Sicherungsverwahrung, etlichen Länderregelungen, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes und Urteilen des Europäischen Gerichtshofes. Alles wurde getragen durch eine politische und mediale Debatte, die – so die These – mehr davon profitiert hat, als es der Sicherheit der Allgemeinheit diente – und zwar auf beiden Seiten, der politischen und der medialen.
Eine qualitative und quantitative Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung zur rechtspolitischen Entwicklung der Sicherungsverwahrung sollte sich im empirischen Teil des Dissertationsprojektes nun der Frage nähern, welchen Einfluss die Berichterstattung über schwere Gewalt- und Sexualstraftaten auf das politische Handeln und die Gesetzgebung in Deutschland hatte. Ziel der Fragestellung war es, einen politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf am Beispiel der Gesetzgebung zur Sicherungsverwahrung aufzuzeigen. Das Untersuchungsmaterial wurde auf die vier Tageszeitungen taz, SZ, FAZ und BILD eingegrenzt. Das Aufgreifkriterium war sicherungsverwahrung* und wurde auf den Zeitraum 1.1.1996 bis 31.12.2014 angewendet. Drei Untersuchungshypothesen sollten auf Artikel- und Aussagenebene überprüft werden. Die Software für qualitative Inhaltsanalysen MAXQDA ermöglichte es, sowohl quantitative Daten in Form von Variablen als auch qualitative Daten in Form von Codes zu erheben. Wichtig dabei: Eine Inhaltsanalyse untersucht nicht Kommunikationsprozesse, sondern eben die Inhalte.
Insgesamt wurden 2.488 Artikel im Untersuchungszeitraum analysiert. Mit 1.075 Artikeln hat die SZ davon mehr als ein Drittel ausgemacht. Von der taz wurden 637 Artikel und von der FAZ 613 Artikel analysiert. Aus der BILD wurden, bedingt durch das gesonderte Selektionsverfahren, 163 Artikel untersucht.
Bis auf BILD entsandten alle drei Zeitungen einen Journalisten in die Justizpressekonferenz, was eine exklusivere Berichterstattung über Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes sowie über die Verhandlungen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ermöglichte. Die FAZ, die SZ und die taz verfügten darüber hinaus über jeweils einen ausgebildeten Juristen als Autor für rechtspolitische Themen und für Beiträge über höchstrichterliche Gerichtsentscheidungen. Trotzdem hatten Agenturmeldungen in diesen drei Zeitungen mit über 20 bis über 30 Prozent den größten Anteil an der entsprechenden Berichterstattung.
Medienkriminalität der Sicherungsverwahrung
Im Analysezeitraum lag der Fokus auf schweren Gewalt- und Sexualstraftaten. Damit kann – unter Berücksichtigung des Aufgreifkriteriums – ein Charakteristikum von Medienkriminalität bestätigt werden, dass diejenigen Straftaten, die laut Kriminalitätsstatistiken eher selten verübt werden und im Alltag der Menschen kaum vorkommen, medial besonders präsent sind.
Medienkriminalität konzentriert sich auf spektakuläre Einzelfälle, nicht auf alltägliche Kriminalitätserscheinungen. Die Analyse hat deutlich gemacht, dass es neben einer Fülle von Landgerichtsfällen nur wenige Einzelfälle gab, auf die Akteure aus dem journalistischen und dem politischen Feld besonders fixiert waren. Warum sich diese Akteure auf Einzelfälle konzentrierten, hing von Umständen ab, die für Außenstehende schwer zu erkennen sind. Aus strafrechtlicher Sicht waren die meisten Einzelfälle sicherlich keine bedeutenden, komplizierten Fälle im Sinne von Grundsatzentscheidungen. Sie durchliefen medial und politisch Filter, die nicht in einem strafrechtlichen Rahmen zu sehen waren.
Das Leben der Täter begann medial bei der Tat und endete mit der Verurteilung. Das Einzige, was darüber hinaus über die Täter zu erfahren war, beschränkte sich wahlweise auf den Beruf, den Wohnort, den Bildungsgrad, körperliche Auffälligkeiten, vorherige psychische Krankheiten und besonders auf das Vorstrafenregister. Der Bezug auf den sozialen Hintergrund der Täter war in allen Analysemedien gering, sie wurden bis auf wenige Ausnahmen durch die Tat charakterisiert. Stigmatisierende Äußerungen über die Täter kamen hauptsächlich in Form von Reduktionen auf die Tat vor. Am deutlichsten war dies bei BILD ausgeprägt, wo erkennbar die Taten der Angeklagten auch für politische Forderungen genutzt wurden. Opfer wurden in der FAZ, der SZ und der taz erwähnt und mit Geschlecht, Alter, Beziehung zum Täter, Schule, Beruf, Wohnort oder durch eine Tätigkeit skizziert, die sie vor der Tat ausgeübt hatten. BILD ging häufiger auf das Leid der Opfer ein, instrumentalisierte es nicht selten, um harte Strafen zu fordern.
Von 1998 bis 2009 standen lediglich strafrechtliche Konsequenzen bei schwerer Gewalt- und Sexualkriminalität im politischen und medialen Zentrum. Wurde anfangs auch noch über Kastration und Resozialisierung geschrieben, lag spätestens mit der Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung der Fokus auf der Maßregel. Nur wenig wurde über Sicherheit, über kriminologische Forschungsergebnisse oder über den Nutzen der Sicherungsverwahrung diskutiert. Die Verwechslung von vorbehaltener und nachträglicher Sicherungsverwahrung war dem Diskurs immanent und verdeutlichte die Oberflächlichkeit der Debatte sowie das Symbolische der Gesetzgebungen. Die mediale Kritik an Gesetzesvorhaben stockte immer dann, wenn aktuelle Einzelfälle bekannt wurden. Denn diese legitimierten häufig die Gesetzgebung, weil niemand Mitverantwortung für mögliche Rückfalltaten tragen wollte. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Denn aus journalistischer Sicht sollte es eben nicht um die Verantwortung für potentielle Taten, sondern um die Verteidigung rechtsstaatlicher Prinzipien und der Menschenrechte gehen.
Die Berichterstattung konzentrierte sich insbesondere bei Einzelfällen vor Landgerichten auf die Tat, den Prozess und die Strafe. Über 50 Prozent der codierten Segmente im Analysezeitraum fielen auf Einzelfälle vor Landgerichten. Die Sanktionsverschärfungen wurden – auch durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes 2004 – kaum substanziell kritisiert, teilweise wurden sie begrüßt und als notwendig erachtet. Ein diskursives Ereignis1 im Diskurs war das Urteil des Europäischen Gerichtshofes 2009, welches durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes 2011 verstärkt wurde. Im Diskurs fand ein Wandel der Argumentationsstruktur statt. Am deutlichsten wurde dies durch den Rückgang der Metapher „Wegschließen für immer“. Geändert haben sich Art und Form der Argumentation und der Argumentationsstrategien. Verwahrte wurden nun in die Kommunikation einbezogen und darauf geachtet, dass nur von vermuteter Gefährlichkeit Entlassener geschrieben wurde. Eine größere Vielfalt von Akteuren spiegelte sich in der Berichterstattung wider, Wissenschaftler wurden um Einschätzungen gebeten. Das alles gilt nicht für die Analyse der BILD. Sie hatte ein Thema gefunden, welches sie hemmungslos dramatisieren konnte.
Dass häufig über Landgerichtsurteile und Entlassungen aus der Sicherungsverwahrung berichtet wurde, ist nicht das Problem, sondern es geht um das Wie, um die Art der Kommunikation. SZ-Autor Heribert Prantl machte darauf selbst aufmerksam. Und zwar in einem Artikel des Untersuchungsmaterials, der sich auf die Entlassung von Karl D. bezog, der nach Heinsberg gezogen war, was über die Ortsgrenzen hinweg Angst und Schrecken auslöste: „Ein mehrmals vorbestrafter Sexualverbrecher bleibt auf freiem Fuß. So lautet die Nachricht; sie klingt empörend. Aber: Die Nachricht ist falsch, zumindest falsch formuliert. Richtig muss sie so lauten: Der Verbrecher hat seine Strafe abgesessen; er ist, nach zwanzig Jahren Haft, wieder auf freiem Fuß; und er darf, so hat der Bundesgerichtshof geurteilt, in Freiheit bleiben. Weil er seine Strafe verbüßt, weil er keine neuen Taten begangen hat und weil kein Gesetz existiert, das es ermöglicht, ihn einfach wieder in Haft zu nehmen. Es gibt keine Strafe ohne Gesetz, es gibt keine Haft ohne Gesetz – es gibt auch keine nachträgliche Sicherungsverwahrung ohne Gesetz. Aber der Mann sei doch gefährlich, klagt der Landrat des Landkreises, in dem der Ex-Häftling jetzt lebt. Er war es aber schon, als er einst in Haft kam; und das Gericht hat in seinem Urteil diese Gefährlichkeit berücksichtigt. Es haben sich während der Haft keine Erkenntnisse für neue Gefährlichkeiten ergeben. Man kann nachträgliche Sicherungsverwahrung aber nicht einfach deswegen verhängen, weil man nachträglich meint, das Urteil damals sei zu milde gewesen.“2 Natürlich ist die zweite Version der Erzählung deutlich länger und für manche nicht auf den ersten Blick nachvollziehbar. Dem möglichen Vorwurf, damit würde Täterschutz statt Opferschutz betrieben, wäre zu entgegnen, dass es weder um den Täter noch um das Opfer ging, sondern um rechtsstaatliche Normen, die wohlüberlegt entstanden sind und mühsam erkämpft wurden.
Verstärkerkreislauf an Einzelfällen
Der politisch-publizistische Verstärkerkreislauf wurde anhand von drei Bundesgesetzgebungen zur Sicherungsverwahrung und den jeweiligen Einzelfällen abgebildet.3 Sichtbar wurde der Zusammenhang zwischen der berichteten Tat bzw. der Berichterstattung über (mögliche) Entlassungen und dem darauf folgenden gesetzgeberischen Handeln.
Gemein ist allen drei Einzelfällen erstens, dass ihr jeweiliger Fall dem Gesetz vorausging und dass es sich um rückfällige oder prognostiziert rückfallgefährdete Sexual- und Gewaltstraftäter handelte. Voraussetzung eines Falls war, dass er aktuell geschah und zeitnah aufgedeckt wurde. Oder die Entlassung der Täter bevorstand und verhindert werden sollte oder bereits passierte, obwohl eine ungünstige Prognose vorlag. Das Strafrecht diente zweitens in allen drei Einzelfällen als Kommunikationsmedium. Das Herabsetzen der Anforderungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung und deren Ausweitung auf sogenannte Altfälle sowie auf den Bereich des Jugendstrafrechts diente im öffentlichen Diskurs einerseits der Minderung von Kriminalitätsangst und andererseits dem Aufzeigen symbolischer Handlungskompetenz. Drittens sollte in allen Fällen Sicherheit vor (potenziellen) Rückfällen mit dem weiteren Wegsperren hergestellt werden. Die Sicherungsverwahrung gehörte offenkundig zum Rüstzeug von Rechtspolitikern. Sie nahm ihnen die Suche nach anderen, menschenwürdigen Wegen, wie mit solchen Straftätern umgegangen werden könnte, ab. Eine vierte Gemeinsamkeit war die Frage nach einer weitergehenden Verantwortung. Damit verknüpft war die Aufgabe, solche Taten nie wieder geschehen zu lassen. Das betraf sowohl politische als auch mediale Akteure. Diese Fragen und Kategorien befördern einen Verstärkerkreislauf.
Die Berichterstattung über Einzelfälle wirkte wie ein Verstärker der Tat, der Aufklärung, des Prozesses und des Urteils und nicht zuletzt der politischen Forderungen, die in Gesetze mündeten. Die Feststellung insbesondere von Rechtswissenschaftlern, dass gravierende Einzelfälle Auslöser für die Verschärfung des Strafrechts waren, kann bestätigt werden. Die Medienberichterstattung hatte Einfluss auf die Gesetzesverschärfungen im Analysezeitraum. Doch es gibt ebenso Anhaltspunkte dafür, dass nicht ausschließlich die Berichterstattung über schwere Gewalt- und Sexualstraftaten das politische Handeln quasi provozierte oder hervorrief. Vieles spricht dafür, dass die Handlungsmotivation aus dem politischen Feld selbst heraus kam, um sich mit symbolischer Kriminalpolitik profilieren zu können. Die Beweggründe aus dem Inneren des politischen Feldes heraus erscheinen mindestens genauso wichtig wie die äußeren medialen Einflüsse. Der Nutzen für politische Akteure seit der ersten Gesetzesverschärfung 1998 und der letzten 2008 liegt auf der Hand: Zehn Jahre lang konnte eine sehr spezielle Maßregel wie eine Kuh gemolken werden – ohne große Auswirkungen auf die Gesellschaft, ohne große Kosten und ohne komplexere Überlegungen zum Umgang mit schwerer Gewalt- und Sexualkriminalität. Der Demokratie hat dies in dreierlei Weise geschadet: Erstens fand eine Einschränkung des Debattenraumes statt, weil Lösungswege fast ausschließlich im Strafrecht und in dessen Veränderungen gesucht wurden. Zweitens wurde so der demokratische Prozess in eine entscheidende Richtung gelenkt. Das Meinungs- und Empörungsmanagement hin zu längeren und härteren Strafen lief auf Hochtouren. Drittens wurde symbolische Kriminalpolitik betrieben, die in jedem Fall zu Lasten des Strafrechts ging.
Das politsche Framing weg von Resozialisierung, hin zur Sicherheit wurde von journalistischen Akteuren recht früh thematisiert und bis auf vereinzelte Ausnahmen insgesamt von FAZ und BILD auch als der richtige Umgang mit Kriminalität bewertet. Damit wurden Medien zu Komplizen einer politischen Agenda.
Die ähnliche berufliche Sozialisation und der ähnliche Habitus zumindest der drei Reporter der Justizpressekonferenz von FAZ, SZ und taz lässt auf eine Herrschaftsnähe schließen, die nicht zuletzt Ausdruck im journalistischen Produkt selbst fand. Während der ersten Analysejahre konzentrierte sich ein Verlautbarungsjournalismus auf die Forderungen politischer Akteure, so dass es zeitweise den Anschein erweckte, Journalisten wären Ko-Politiker, weil sie mehr die politischen Dispute abbildeten als Einordnungen und Hintergründe zu den konkreten Forderungen darzulegen. Das Blickfeld verengte sich auf Strafschärfungen und ließ wenig Spielraum für andere Möglichkeiten des Umgangs mit Kriminalität.
Bis heute hält sich die Annahme, dass im Gefängnis ausschließlich schwere Jungs sitzen würden, die für viel Leid in der Gesellschaft verantwortlich sind. Es wird also ein Problem definiert, wie die Gefahr durch schwere Gewalt- und Sexualstraftäter, welche individuell zwar großes Leid auslöst, aber für die Gesellschaft insgesamt keine existenzielle Bedrohung darstellt. Die analysierte Berichterstattung über die Sicherungsverwahrung schließt die These einer einmaligen Überreaktion aus: Die Überreaktion hatte oder wurde zum System.
Sicherheitsdiskurs der Sicherungsverwahrung
Die Reaktivierung der Sicherungsverwahrung ordnete sich in die mediale und politische Sicherheitsdebatte ein, wobei die strukturellen Leitbegriffe der Sicherheitsgesellschaft schon gesetzt waren. Es musste nicht mehr verhandelt werden, ob die Gesellschaft vor gefährlichen Straftätern geschützt werden sollte oder vor etwaigen Übergriffen des Staates. Es war selbstverständlich, dass der Staat den Bürger vor potenziellen Risiken, die von Sexualstraftätern ausgehen könnten, schützen müsse. Die Diskussion um die Sicherungsverwahrung harmonierte mit der politischen und medialen Vorstellung von Sicherheit. Die untersuchten Medien haben die Sicherheitsgesellschaft mitgestaltet und im Fall der Sicherungsverwahrung keine Grenzen gesehen. Sie sensibilisierten durch die Berichterstattung über Einzelfälle und über die Abbildung politischer Debatten auf Gesetzesverschärfungen als einzigem Lösungsweg, statt kritisch zu reflektieren, ob Aufwand, Nutzen und Menschenrechte das legitimierten. Jedoch unterschieden sich die einzelnen Tageszeitungen je nach politischer Ausrichtung und je nach Journalist.
Der Begriff Sicherheit ist in der strafrechtlichen Bedeutung auf die Sicherheit der Rechtsgüter bezogen. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezieht er sich vornehmlich auf die Polizei und deren präventive Sicherheitsvorsorge, die zukünftige Schäden vermeiden soll. Die Analyse hat deutlich gemacht, dass sich das strafrechtliche Verständnis von Sicherheit zunehmend dem der polizeilich-präventiven Funktion angenähert hat. Strafe bezieht sich auf Taten, die in der Vergangenheit begangen worden sind; Strafe blickt nur mittelbar in die Zukunft. Sie trägt also nicht zur gegenwärtigen Sicherheit bei. Dafür gibt es im Strafgesetzbuch zusätzlich die Maßregeln. Die Maßregel der Sicherungsverwahrung wurde im Analysezeitraum zum Garanten für Sicherheit – zumindest in der kommunikativen Vermittlung. Wie selbstverständlich wurde argumentiert, dass das Strafrecht zur gesellschaftlichen Sicherheit verhelfe, wenn Gesetzeslücken ausgemerzt würden. Nicht erwähnt und thematisiert wurde dabei, dass das Streben nach Sicherheit über strafrechtliche Stellschrauben die Freiheit einschränkt. „Die Freiheit stirbt mit Sicherheit.“4, hat das der Jurist und Kriminologe Peter-Alexis Albrecht auf den Punkt gebracht. Diese Argumentation gipfelte im Jahr 2001 in der Forderung des damaligen Bundesinnenministers Otto Schily (SPD) nach einem Grundrecht auf Sicherheit. Damit ließen sich jegliche staatliche Maßnahmen legitimieren. Gleichzeitig würde dem rechtspolitischen Diskurs durch den totalitären Anspruch ein Ende gesetzt. Ein Grundrecht auf Sicherheit fußt auf der Illusion, dass totale Sicherheit möglich wäre. Der illusio im Bourdieuschen Sinne wurde mit einer möglichen lebenslangen Sicherungsverwahrung Vorschub geleistet.
Soziale Kontrolle verschiebt sich von dem Bereich der disziplinierenden Intervention und der sozialen Integration hin zur Verwaltung des empirisch Normalen mit den Techniken der Selbstführung, Kontrolle und dem Ausschluss. Die Ängste in der Gesellschaft lassen sich auf Sündenböcke projizieren. Damit wird ein Ventil für die Angst geschaffen, ohne deren Gründe zu beseitigen. Angsterzeugung, wie sie medial und politisch durch die Annahme einer Bedrohung durch Sexualstraftäter vollzogen wurde, ist ein Herrschaftsinstrument. Sie lenkt ab von wesentlicheren Problemen der Demokratie und managt so den Diskurs von den eigentlichen Problemen weg. Eine neoliberale Gesellschaft benötigt deshalb keine klassischen Manipulationstechniken. Es genügt ein entlassener Sexualstraftäter, um in der Gesellschaft Zusammenhalt zu erzeugen und ihr das Gefühl zu geben, in der vereinzelnden Welt einem gemeinsamen Kompass zu folgen. Daher hat die Analyse des Diskurses zur Sicherungsverwahrung nicht nur eine Diskursverengung durch die einseitige Konzentration auf die Maßregel, sondern auch im Sinne des Kognitionswissenschaftlers und Psychologen Rainer Mausfelds eine Diskursvermüllung durch die spezifische Medienkriminalität deutlich gemacht. Politische und journalistische Akteure sorgten durch eine überproportionale Aufmerksamkeit für schwere Gewalt- und Sexualkriminalität für eine Sinnentleerung der politischen Debatte und setzten auf Affekte, die vernunftgeleitetes Denken schwächten.
Insgesamt betrachtet hat der Sicherheits- und Präventionsframe in der empirischen Analyse einen leichten Vorsprung vor dem Resozialisierungsframe. Der Blick in die einzelnen Analysemedien zeigt, dass es deutliche Unterschiede gibt. Auch wenn in der FAZ häufiger der Sicherheits- und Präventionsframe vorkam, ging der Deutungsrahmen über das plakative Wegsperren für immer hinaus, welcher selbst im Analysezeitraum kritisiert wurde. Neben den Edelfedern und preisgekrönten Journalisten kamen auch renommierte Experten zu Wort. Sicherheit durch Sicherung und nicht durch Resozialisierung war von Anfang an ein Thema in der FAZ. Deshalb fiel die Argumentation auf Basis des Feindstrafrechtes auf Resonanzboden. Der Resozialisierungsframe entwickelte sich im Analysezeitraum von der Berichterstattung über Therapiemöglichkeiten im Gefängnis bis zur Begleitung von Entlassenen aus der Sicherungsverwahrung. In der SZ wurde der Sicherheits- und Präventionsframe entlarvt und kritisiert sowie zunehmend durch den Resozialisierungsframe verdrängt. Auch ein Grundrecht auf Sicherheit wurde in den Kommentaren und Leitartikeln kritisiert. Das resozialisierungsfreundliche Strafvollzugsgesetz von 1976 galt der SZ als Fundament, wozu insbesondere Heribert Prantl beitrug. Die taz legte auf Resozialisierung großen Wert. Deshalb erhielten Gefangene hier selbst Rederecht. Sie wurden im Gefängnis und auch danach begleitet, ihre Rechte wurden vertreten und auf Probleme wurde aufmerksam gemacht. Der Sicherheits- und Präventionsframe kam hier, wenn auch nicht so massiv, trotzdem in der Berichterstattung über aktuelle Kriminalitätsfälle oder Sicherungsverwahrungsthemen vor. Die taz bezeichnete die Rechtspolitik rund um das Thema Sicherungsverwahrung – ebenso wie die SZ – als populistisch. Beide Zeitungen kritisierten überwiegend den Sicherheits- und Präventionsgedanken und zogen – natürlich von Autor zu Autor unterschiedlich – eine Verbindung zwischen öffentlich ausgeschlachteten Einzelfällen und politischer Handlungskompetenz. Doch die taz lehnte wie FAZ und SZ die Sicherungsverwahrung nicht generell ab. Sie sollte jedoch nur Gewalt- und Sexualstraftätern vorbehalten bleiben. Fast ausschließlich wurde in der BILD der Sicherheits- und Präventionsframe angewendet. Damit bekannte sich BILD explizit zu einem Sicherheitsbegriff, der die Sicherheit über die Freiheit stellt. Nach deren Sicht gibt es eine Sicherheit vor (potentiellen) Tätern nur, wenn sie lebenslang weggesperrt werden.
Schlussfolgerung
Das hier behandelte Thema ist relevant. Kriminalität und Kriminalitätsberichterstattung können für politische und journalistische Akteure einen systematischen Nutzen zum Machterhalt besitzen, während Bürger der Illusion anhängen, es ginge um die Sicherheit der Gesellschaft. Das Interesse der Öffentlichkeit an Kriminalitätsberichterstattung wurde genutzt, um Strukturveränderungen vorzunehmen, die den Rechtsstaat beschädigten.
Noch Mitte der 1990er schien eine Aufhebung der Sicherungsverwahrung möglich. Dann verlief die Entwicklung rasant gegenläufig. In einem von politischer und medialer Seite geführten Sicherheitsdiskurs trug sie zur Illusion von Sicherheit in der Öffentlichkeit bei. Nutznießer waren politische und journalistische Akteure. Die einen setzten die Sicherungsverwahrung zum Nachweis ihrer Handlungskompetenz ein und damit als Mittel zum Machterhalt, die anderen zur Aufmerksamkeitsmaximierung und damit zur Steigerung von Reichweite und Auflage. Beide Akteure waren Komplizen bei der Umsetzung ihrer jeweiligen Ziele. Die Maßregel wurde jedoch dafür so weitreichend verändert, dass sie letztlich gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstieß. Das sicherlich hehre Ziel, schwere Gewalt- und Sexualkriminalität mit der Maßregel der Sicherung und Besserung zu „bekämpfen“, mündete in einen Flickenteppich von Gesetzen, deren Auslöser wenige Einzelfälle waren. Das Strafrecht wurde zum Mittel und Medium für symbolische Kriminalpolitik, was der Demokratie geschadet und Freiheit eingeschränkt hat.
Ausgewählte Erkenntnisse
- Die Untersuchung des Diskurses zur Sicherungsverwahrung zeigte, dass das Strafrecht für politische und mediale Akteure einen kommunikativen Nutzen hatte. Damit kann die aus der Rechtswissenschaft konstatierte These über das Strafrecht als Kommunikationsmedium gestützt werden. Genährt wurde damit ein Strafethos, der sich auf das Wegsperren für immer als Strafe konzentrierte.
- Die empirische Untersuchung hat den politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf am Institut der Sicherungsverwahrung nachgezeichnet und Erkenntnisse darüber geliefert, welche Bedeutung Einzelfälle, Gerichtsurteile und politische Botschaften dabei hatten.
- Deutlich wurde in der Auswertung des journalistischen Materials, dass die Änderungen an der Sicherungsverwahrung angesichts schwerer Einzelfälle akzeptiert, von BILD sogar gefordert wurden. Die mangelhafte journalistische Kritik an der rechtspolitischen Diskussion lässt sich durch die Feldstruktur erklären. Journalisten, die Mitglied der Justizpressekonferenz des Bundesverfassungsgerichtes waren, neigten weniger dazu, die Karlsruher Entscheidung von 2004 zu kritisieren, und Journalisten im Politikressort fungierten als Verstärker politischer Forderungen, statt diese kritisch zu hinterfragen. Schließlich waren Journalisten angesichts schwer Einzelfälle von Gewalt- und Sexualkriminalität trotz angebrachter kritischer Aspekte bezüglich Prognosen und fehlender Resozialisierungsmöglichkeiten im Vollzug geneigt, die bittere Pille als ultima ratio zu schlucken.
- Die Berichterstattung über besonders gravierende Gewalt- und Sexualdelikte kann Demokratiedefizite bzw. Menschenrechtsverletzungen unsichtbar machen, weil sich ein moralisch geführter Diskurs, in dem alle einer Meinung sind, leichter lenken lässt. Am Sicherungsverwahrungsdiskurs zeigte sich, wie schnell Kernfragen der Demokratie gar keine Rolle mehr spielen können.
- Durch den Imperativ der Aufmerksamkeit, Konsumlogik, Unterhaltung und Personalisierung wurden die Tendenzen der Entpolitisierung im politischen wie auch im journalistischen Feld verstärkt. Erkenntnisse aus der Kriminologie gehören an den Beginn einer Diskussion und rechtsstaatliche Errungenschaften gilt es zu verteidigen. Wissenschaftliche Erkenntnisse über Kriminalität in der Berichterstattung fördern journalistische Haltung. Das wiederum darf aber nicht mit der Gesinnung des Journalisten verwechselt werden5. Ähnliches gilt für das politische Feld: Populistische, statt sachlich-fundierte Statements polieren das eigene Image, tragen aber nichts zur Veränderung bestehender Verhältnisse bei. Der Debattenraum wird damit von Volksvertretern, die von der Politik leben, selbst eingeschränkt, statt argumentativ bereichert.
- Eine Änderung der Sicherheits- und Strafrechtsdiskussion ist nötig, die keine grenzenlose Sicherheit verspricht und deviant gewordene Menschen stigmatisiert und ausschließt. Eine Welt ohne Kriminalität wird nie möglich sein. Gibt es Normen, gibt es auch Normverstöße. Die Normen werden von der Gesellschaft ausgehandelt. Der Umgang mit dem Thema Sicherheit muss sich wieder der Aufklärung verpflichtet fühlen und darf keine Bestrafungs- und Sicherheitserwartungen bedienen.
- Siehe Margarete Jäger: Medienkritik als Gesellschaftskritik. Skizze eines Analysekonzeptes. In: Hans-Jürgen Bucher (Hrsg.): Medienkritik zwischen ideologischer Instrumentalisierung und Aufklärung. Köln 2020, 39–61, hier S. 49 f. ↩︎
- Süddeutsche Zeitung, 14.01.2010, Weil du gefährlich bist, Kommentar von Heribert Prantl. ↩︎
- Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten trat besonders häufig mit dem Fall Natalie A. in einem Dokument auf. Das Gesetz der Sicherungsverwahrung für Altfälle korrelierte mit den Fällen Uwe K. und Frank O. Und das Gesetz zur nachträglichen Sicherungsverwahrung für Jugendliche kam am häufigsten in Dokumenten vor, in denen auch die Fälle Daniel I. und Martin P. erwähnt wurden. ↩︎
- Peter-Alexis Albrecht: Die vergessene Freiheit. Strafrechtsprinzipien in der europäischen Sicherheitsdebatte. Berlin 2003, S. 169. ↩︎
- Vgl. Peter Welchering: Gesinnung oder Haltung. Klärung in einer journalistischen Werte- und Erkenntnisdebatte. In: Journalistik, Zeitschrift für Journalismusforschung, 3. Jg., 2020 Heft 3, S. 234–249, hier S. 239 f. ↩︎