Über Würde in der Hilflosigkeit
Lesetipp: „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“ von Gabriele von Arnim
Eine Frau teilt ihrem Mann mit, dass sie sich von ihm trennt. Noch am selben Tag bekommt sie einen Anruf aus einer Klinik: Er liegt dort nach einem Schlaganfall. Wenige Tage später folgt ein zweiter. Trotzdem gehen? Das fragt sie sich gar nicht. Ein Mann, der Gesellschaft liebte, sprachstark und eigenständig war, ist urplötzlich nahezu stumm und körperlich selbst für die kleinsten Verrichtungen auf Hilfe angewiesen. Sie bleibt bei ihm und beide lernen eine neue Art ihrer Liebe kennen.
Sie gibt alles, baut die Wohnung in Berlin nach seinen neuen Bedürfnissen um, lernt zu pflegen und für ihn da zu sein, Tag und Nacht. Sie sagt: „Wenn wir nicht mehr in die Welt kommen können, dann soll die Welt zu uns kommen.“ Sie lädt Freunde und Bekannte ein, schafft einen Kreis aus Vorlesern für ihn. Während Pflege in Deutschland heute überwiegend in Minuten und Sachleistungen abgerechnet wird, steckt Gabriele von Arnim all ihre Kraft in die Innenwelt.
Die Autorin ist, wie sie heißt: Gehobenes Bildungsbürgertum mit adeliger Ahnengalerie. Ihr Mann und sie waren angesehene und entsprechend vermögende Journalisten. Sie konnten sich eine Pflegekraft leisten, den Umbau der Wohnung und vieles mehr, was die meisten Betroffenen nur nach Kämpfen mit Ämtern und Kostenträgern teilweise finanziert bekommen. Darüber sollten Leser hinwegsehen oder gar verstehen, dass die kleinen und großen Probleme dieser Art Lebenssituation Klassen und Schichten vereinen.
Zehn Jahr lang dauert diese Art des Lebens mit Pflege, Aufopferung, großen und kleinen Kämpfen, Verzweiflung und Liebe, Hoffnung und Resignation.
Gabriele von Arnim gibt Betroffenen und Angehörigen eine Stimme. Sie holt ein Thema aus dem Dunkel des Tabus, dass doch jeden interessieren müsste, aber in einer Gesellschaft, die auf Leistungsfähigkeit getrimmt ist, kaum gesehen wird. Hilfsbedürftigkeit, das ist eine Erfahrung, die alle Kinder machen, was akzeptiert wird. Es ist eine Erfahrung, die alle Alternden machen, was allzu gerne ausgeblendet wird. Und es ist eine Erfahrung, die täglich zum Beispiel durch ein Unglück allen passieren kann.
Was dieses Buch heraushebt, ist die außergewöhnliche Sprachgewalt, die selbst noch nicht Betroffenen tief unter die Haut geht, eine beeindruckende Mischung aus Nähe und Distanz, schmerzhafter Wahrhaftigkeit und tiefem Gefühl. Die Autorin verzichtet auf vieles. Zum Beispiel auf eine chronologische Struktur und auf eine leicht bekömmliche Ordnung der Erzählebenen. Sie durchbricht die erzwungene Ordnung des Lebens in der Pflege durch ständige Fragen, Gedanken, Zweifel, Gefühle; eine Mischung, die sich nur in ihrer Gesamtheit als klar und unabwendbar erschließt. Damit erreicht sie all jene, die mitreden können, weil sie ähnliche Erfahrungen machen oder machten, aber auch jene, denen es bevorsteht.