Wie lang erprobte Machttechniken die DDR überrollten

Franzi/ November 30, 2020

Eine Rezension von Franziska Schneider

Baggerfahrer und Liedermacher Gerhard Gundermann sagte einmal: „An diesem Punkt mit der besten Übersicht ist ein Blick zurück manchmal der beste Blick nach vorn.“ Nach dreißig Jahren Einheit und einer Pandemie, die den autoritären Geist des Kapitalismus offen legt, so Daniela Dahn und Rainer Mausfeld, wagen beide in ihrem Buch „Tamtam und Tabu.“ jenen Blick zurück und schauen dabei zugleich nach vorn.

1989/1990 ergab sich die einmalige Gelegenheit, dass sich das Volk zum Souverän erhebt. Doch der Aufbruch oppositioneller Gruppen und der SED Reformer, die die DDR demokratisieren wollten, endete in einem vom Westen gekauften Land, einer freiwilligen Knechtschaft. Daniela Dahn nennt das auch eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik lässt sich nur oberflächlich mit der „verwirrten Herde“ (Walter Lippmann) vergleichen, denn Ideen der Demokratisierung und emanzipatorische Alternativen von Gesellschaften gab es damals genug, genauso wie heute. Doch warum und mit welchem Ziel kamen sie in den „freien“ Medien der BRD nicht vor? Weil das Tamtam und Tabu von Politik und Medien die „verwirrte Herde“ auf den kapitalistischen Kurs bringen sollte. Dazu gibt die Publizistin und Journalistin Daniela Dahn im ersten Teil des Buches eine Volkslektüre wieder, die sich wie ein Krimi liest und bis ins Mark erschüttert. Sie zeigt das Tamtam der Meinungsbeeinflussung, aber auch das Tabuisieren des Widerspruchs dagegen auf. Der Kognitionsforscher und emeritierte Professor für allgemeine Psychologie Rainer Mausfeld erklärt im zweiten Teil des Buches, wie die Machttechniken 1989/1990 mit voller Wucht die DDR trafen und ihre Wirkung erzielten, dass der Bürger will, was er wollen soll. Damit wurde die historische Chance vertan, die Volkssouveränität durch eine Verfassung, die vom Volke ausgeht, zu verankern. Dagegen ist die Siegermentalität bis heute spürbar.

Blick zurück: Tamtam

Dahn stellt sich der bis heute unbeantwortet gebliebenen Frage, wie es möglich sein konnte, dass ein Volk, dass sich noch im November 1989 mit 86 Prozent für einen reformierten Sozialismus aussprach, so gedreht werden konnte. Vierzig Jahre Selbstbewusstsein und emanzipatorische Zivilisation wurden in einem Vierteljahr auf den kapitalistischen Weg gebracht. Ihre Medienanalyse geht weit über die Ablösung des Mottos der Leipziger Montagsdemo „Wir sind das Volk“ durch den Slogan „Wir sind ein Volk“ hinaus.

Die Zeitungen konzentrierten sich damals auf Skandale und Diffamierungen: Insgesamt entstand der Eindruck, dass hohe politische Funktionäre der DDR in Geld und Portwein drei Mal täglich badeten, ihre Frau(en) mit Schmuck und Autos versorgten und selbst in kleinen Schlössern in Wandlitz gewohnt haben. Natürlich gab es kritikwürdige Privilegien der SED Funktionäre. Aber diese standen in keinem Verhältnis zu den Medienberichten. Zwanzig Jahre nach der Einheit gab die Bild Zeitung zu, dass die Stasi-Unterlagenbehörde gefälschte Dokumente zu Honeckers Schweizer Privatkonto heraus gegeben hatte. Eine weitere Presseente des Boulevards vom Februar 1990 war, dass die Stasi Millionen von DM aus Briefen an DDR-Bürger gestohlen hätte. Es liegt nahe, von systematischen Fehlinformationen zu sprechen.

Die Stasi war damals und ist bis heute noch ein gern benutztes Feindbild. Als Dauerbrenner wird sie für jegliche Probleme der DDR verantwortlich gemacht, während der vermeintliche Aufklärer aus dem Westen seine Schäfchen ins Trockene bringt. Die Kanalisation des Volkszorns auf die Stasi hat nicht nur viele Menschenmassen zusammengeschmiedet und das Ziel einer reformierten DDR vom Tisch gewischt, sondern auch gekonnt von den Geheimdiensten der BRD und den demokratiefeindlichen Ausmaßen ihrer Tätigkeit abgelenkt.

Doch noch wichtiger war es, die Einstellung der Ostler zu Eigentum und Kapital zu drehen. Nicht nur die Stasi, auch das Volkseigentum sei am Bankrott der DDR Schuld. „Die Leute glaubten, um ihren Besitzstand zu wahren, sei es erst einmal das Beste, die Kräfte des Geldes zu wählen. Sie lieferten sich den Finanzstarken aus, in der Hoffnung, dadurch selbst stark zu werden. Sie wollten das Kapital und wählten die Kapitulation.“ (Dahn 2020: 86 f.)

Sechs Wochen vor der Volkskammerwahl im März 1990 standen, so Dahn, noch alle „windows of opportunity“ offen. Welcher Sturm hat die Alternativlosigkeit ins Land geblasen? Beispielsweise wurden eine Million Sonderexemplare des Sterns zur Wahl am 18. März 1990 verteilt. Die Deutungshoheit lag nicht in den Händen der Bürger, die wählen gehen durften. Springer und Bertelsmann saßen in den Startlöchern und die Ausgangslage der DDR-Medien war schlecht gegen die aggressiven und kapitalstarken Westverlage. Damit war das Licht einer demokratischen freien Presse, eines neuen Ansatzes der DDR-Medien, erloschen.

„Nach gängiger Geschichtsschreibung war die Volkskammerwahl vom März 1990 die einzige, die den demokratischen Grundsätzen entsprach. In Wahrheit waren es Westwahlen auf dem Territorium der besetzten DDR. Ein Vorgang, der mit der Zuschreibung ‚demokratisch‘ nicht gerade trefflich erfasst ist. Die Ostler hatten eher die Rolle von umworbenen Statisten.“

(Dahn 2020: 83)

Die akribische Nach-Presseschau von Dahn, die nicht nur bei der Autorin Wut und Schmerz ausgelöst hat, bleibt partiell, denn um das mediale Tamtam des Beitritts zu entschlüsseln, benötigte man vermutlich noch ganze Studiensemester.

Tabu

Der Wunsch, nicht nur von großen Teilen der DDR-Bevölkerung, auch von Experten aus der BRD, war Alternativen zur überstürzten Einheit zu finden. Das in der DDR emanzipatorisch Errungene sollte in die Einheit überführt werden. Doch es lief ganz nach dem Satz von John Maynard Keynes ab: „Die Schwierigkeit liegt nicht darin, neue Ideen zu finden, sondern darin, die alten loszuwerden.“ Und das gelingt neben den Tamtams auch durch das Markieren von Tabus.

Ein Tabu ist beispielsweise das vom Widerstehen. Dahn beschreibt, dass es mit Nichten so war, dass nach der Einheit alle einen Geldsegen wollten und erhofften. „Die Zweitrangigkeit von Geld war unser Kapital.“ (Dahn 2020: 129) Die emanzipatorischen Errungenschaften der DDR, gerade auf dem Gebiet des Sozialen oder im Arbeitsleben, aber auch ihr Selbstbewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl, sollten nicht in Schall und Rauch aufgehen. Die Geringschätzung der ostdeutschen Lebenskultur hängt auch damit zusammen, dass die Geschichte vom Sieger geschrieben wird. Dieser zäumt das Pferd von hinten auf, anstatt die Entstehung der DDR und ihre Chancen und Bedingungen, ihren Anspruch und ihre Wirklichkeit zu analysieren.

Zum Tabu gehören natürlich auch unliebsame Fakten: Während die Geburtenrate in Ostdeutschland nach der Wende sank, wuchsen die Proteste gegen Entlassung und Ungleichbehandlung um das Doppelte von 1989 an. Doch die vielen Arbeitslosen, die die Einheit mit sich brachte, wurden zum Teil vorhergesagt. Diese Analysen waren ebenso ein Tabu, gerieten nicht ins Sichtfeld. Aber die damalige Unzufriedenheit und Unsicherheit, auch wenn sie von einem Tabu umhüllt ist, wird zwangsläufig an die nächsten Generationen vererbt. Die Folgen sind heute spürbar in der Wahl von Rechtspopulisten.

Ein noch viel wichtigeres Tabu war und ist es allerdings, den Kapitalismus zu kritisieren. Keinesfalls durfte die Frage und Antwort nach dem Eigentum aufkommen. Dabei wusste Bertolt Brecht schon nach der Machtergreifung der Nazi-Faschisten sinngemäß: Sprechen wir über das Wesentliche, sprechen wir über das Eigentum. Die Eigentumsfrage erschüttert jedoch den Kern jeder kapitalistischen Demokratie und muss deshalb aggressiv aus der Öffentlichkeit verbannt werden.

„Diese merkwürdige Population bewegt sich noch in kollektiven Herden, weiß nichts von westlicher Wertegemeinschaft, nach der es ergiebiger ist, den Weg zur Tränke allein einzuschlagen. Sie sind reif fürs Panoptikum, abgespeist mit dem Glasperlenspiel: Wir kümmern uns um eure Betriebe, Immobilien und den Grund und Boden, ihr bekommt dafür unsere Freiheitsmurmeln.“

(Dahn 2020: 150)

Was bleibt nach dem Tamtam und Tabu übrig? Medien spielen im ökonomischen Roulette mit, sitzen an denselben Tischen wie Politiker und sind keine ernstzunehmende Gefahr für die Machtstrukturen in kapitalistischen Demokratien. Im Gegenteil: „Die privatrechtliche Organisation von Medien und der dieser angepasste Quotenkampf der Öffentlich-Rechtlichen führt zu einer Wirkungsverstärkung von wirtschaftlicher und Kommunikationsmacht.“ (Dahn 2020: 127)

Blick nach vorn: Mär von der freien Wahl und dem Systemwechsel

Von freier Wahl kann in Bezug auf die Volkskammerwahl nicht gesprochen werden. Denn psychologisch befanden sich die Wähler keineswegs in der Lage, rationale Urteile fällen zu können, schlussfolgert Mausfeld. Die Empörung darüber blieb und bleibt freilich aus. Schließlich haben wir uns heute daran gewöhnt, dass der Wahlkampf ein Kampf der größtmöglichen Geldsummen und die Schlacht der populistischsten Botschaften ist. Da brauchen wir gar nicht mit überlegenem Blick auf die kürzliche US-Wahl schauen. Unternehmensspenden an Parteien gibt es auch hierzulande.

Mausfeld konstatiert für die Volkskammerwahl eine „siegestrunkene Hemmungslosigkeit, mit der eine freie Meinungsbildung der DDR-Bevölkerung behindert und blockiert wurde.“ (Mausfeld 2020: 173 f.) Gegen die Methoden der Meinungsmanipulation oder des -managements war die Propaganda der DDR „oft durchsichtiger Voluntarismus, selten geschliffenes Argument – die Abwesenheit von raffinierten Techniken war offensichtlich.“ (Dahn 2020: 147)

Was Dahn anhand ihrer Presseschau beschreibt, ist nicht neu, sondern konnte auf erprobte Techniken zurückgreifen: Meinungsmanagement, unsichtbare Indoktrination, Spaltung und Zersetzung. So gelang es, die Meinungsbildung 1989 in kurzer Zeit den wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen des Westens zu beugen. Der Debattenraum war so verengt, dass die Wahl so ausgehen musste. Macht- und Kapitalinteressen beeinflussten die Meinungsbildung.

Und trotzdem: Nach der Volkskammerwahl war die Mehrheit der DDR Bürger immer noch gegen einen schnellen und bedingungslosen Beitritt. Auch am Volkseigentum wurde noch von mehr als der Hälfte der Bürger festgehalten. Nein, man wollte nicht den Status quo des Westens. Das Misstrauen gegen Politiker wuchs. Doch es war zu spät. Sowohl der Staatsvertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion, als auch das Treuhandgesetz und der Einheitsvertrag zielten darauf ab, „durch die Wiederherstellung alter Besitzverhältnisse alte Machtstrukturen zu restaurieren.“ (Dahn 2020: 90) Diese Verträge waren die „Kardinalssünden auf dem Weg zur Einheit“ (Dahn 2020: 90). Das DDR-Volkseigentum wurde als Bösewicht ausgemacht, hat man es doch angeblich durch Bodenreform und Enteignung von NS-Belasteten gestohlen. Mit der Einführung der D-Mark hatte die DDR dann endgültig ihre Hoheitsrechte abgegeben.

Die „destruktive Funktionslosigkeit des Kapitalismus“ (Mausfeld 2020: 187) hat einen Systemwechsel nötig. Doch das Zeitalter der Alternativlosigkeit wurde mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz ausgerufen, weshalb die Vorstellung heute leichter ist, auf den Mond zu fliegen, statt den Kapitalismus abzuschaffen. Der Spruch vom „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) machte die Runde. Diese krasse Denkblockade ist gewollt und systemimmanent. Ob 1989 oder heute, die Techniken der Indoktrination wirken. Ganz nach Orwell wurden Begriffe stillschweigend umgedeutet: Demokratie – von Volksherrschaft (Vergesellschaftung von Herrschaft) zur Elitedemokratie; Freiheit – von Freiheit der Denk- und Meinungsäußerung zur Freiheit als Konsument und des Marktes; Sicherheit – von Sicherheit vor autoritären Strukturen des Staates zur Sicherheit durch den Staat, in dem der Bürger selbst zum Sicherheitsrisiko erklärt wird.

Virusbefall der Demokratie

Im letzten Teil des Buches treffen Dahn und Mausfeld in fünf Gesprächsreihen aufeinander und verknüpfen ihre Erkenntnisse. Dabei scheuen sie sich nicht vor der Bewertung der aktuellen Situation in Zeiten der Pandemie und von Protestbewegungen. Der autoritäre Geist wurde durch Corona sichtbar: „Die Krise zeigt in besonderer Weise, wie schnell die Zentren der Macht bereit sind, die demokratische Maske fallen zu lassen und autoritär durchzuregieren.“ (Mausfeld 2020: 195) Die freiwillige Selbstentmündigung der Bürger, auch in Corona Zeiten, ist für Dahn und Mausfeld erschreckend.

„Auch die Corona-Krise können wir nur verstehen, wenn wir uns klarmachen, dass es – und dabei bleibe ich – bei staatlichem Handeln nicht primär um die Gesundheit der Bevölkerung geht. Gerade die Bewältigung von Pandemien ist kein gesundheitlicher Selbstzweck, sondern sie gehört überwiegend zum Bereich der inneren Sicherheitsarchitektur von Staaten. Ginge es also wirklich vorrangig um Gesundheit, würden wir schon lange über die Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens, über die gesundheitlichen Folgen von Hartz IV oder der Einführung prekärer Arbeitsverhältnisse diskutieren.“

(Mausfeld 2020: 201)

Die Illusion, es würde um Gesundheit gehen, ist jedoch für die kapitalistische Demokratie unabdingbar, sonst würde sie Stabilität und Legitimität einbüßen. Auch die verschiedenen Bedrohungskulissen sind wichtige Bausteine zum Stabilisieren und Ausweiten autoritärer Maßnahmen. „Es ist jedoch ein Resultat systematischer Spaltungsstrategien, mit denen die Zentren der Macht seit jeher versuchen, emanzipatorische Bewegungen zu zersetzen und dadurch politisch zu neutralisieren. Durch eine systematische Förderung von ‚political correctness‘, Identitätspolitik und ‚cancel culture‘ sind diese Spaltungsstrategien so erfolgreich, dass sich soziale Bewegungen immer aggressiver gegenseitig bekämpfen.“ (Mausfeld 2020: 167)

Dahn und Mausfeld zeigen nicht nur, wie sich Menschen in ihrer gesellschaftlichen Willensbildung beeinflussen lassen, sondern wie Meinungen und Affekte in geeigneter Weise gesteuert werden können: mittels Psychotechniken der Macht.

Die Methoden des Dissensmanagements und der Diffamierungen machen selbst vor dem Wissenschaftler Mausfeld nicht halt und bestätigen damit glänzend seine These und auch seine Relevanz. Es gibt nicht wenige Linke, die Rainer Mausfeld in die Nähe von Verschwörungstheoretikern rücken. Damit wird er zu einem Tabu. Und, um Daniela Dahn zu zitieren: „Wer ein Tabu übertritt, wird selbst tabu. Denn das Übertreten ist ansteckend. Der- oder diejenige muss gemieden werden, wird zur sozialen Gefahr.“ (Dahn 2020: 15) Es ist zu hoffen, dass Dahn davon verschont bleibt und das Buch sowie weitere Bücher von beiden Autoren noch in vielen (linken) Händen landen. Denn wer die Gesellschaft verändern will, muss die Technik der Machtführung und das Empörungsmanagement erkennen.

Dahn, Daniela; Mausfeld, Rainer (2020): Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung. Frankfurt/Main: Westend Verlag.

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