Prävention statt späterer Repression

Franzi/ Mai 25, 2020

Peter Asprion ist Supervisor, Coach, Mediator, Klärungshelfer, Diplompädagoge und -sozialarbeiter. Als Bewährungshelfer betreute er 2010/2011 sieben aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entlassene Sicherungsverwahrte. In seinem 2012 publizierten Buch „Gefährliche Freiheit? Über das Ende der Sicherungsverwahrung.“ schildert er den schwierigen Weg von Menschen, die jahrzehntelang hinter Gittern saßen und von der Gesellschaft aufgrund der Stigmatisierung als gefährliche Straftäter abgestoßen werden. Mich interessiert im Interview besonders seine Erfahrung mit Medien und Politik während seiner Arbeit mit entlassenen Sicherungsverwahrten.

Interview mit Peter Asprion

Wie lange haben Sie als Bewährungshelfer gearbeitet?

Ich habe von 1996 bis 2019 als Bewährungshelfer und Mediator im Täter-Opfer-Ausgleich gearbeitet. Zuvor war ich mit ähnlich belasteten Menschen als Sozialarbeiter im Strafvollzug tätig.

Waren die medialen und politischen Begleiterscheinungen der von Ihnen zu betreuenden 2010/2011 entlassenen Sicherungsverwahrten anders als bei Entlassungen der Jahre davor?

Die „Begleiterscheinungen“ in dieser Art gab es zuvor so nicht. Die mediale Aufmerksamkeit war riesig. Journalisten verfolgten Entlassene von der JVA bis zur Bewährungshilfe; die Bildzeitung veröffentlichte kontinuierlich eine Art Landkarte des Bösen, auf denen die Orte vermerkt waren, an denen entlassene Sicherungsverwahrte wohnten. Das wirkte sich auf Nachbarschaften aus, Entlassene und deren Vermieter wurden beschimpft und belästigt. Es gab aggressive Demonstrationen gegen die Unterbringung nach der Entlassung.

Die Polizei observierte offen die Entlassenen und begleitetet sie zeitweise mit fünf Beamten rund um die Uhr. Die Politik zeigte sich überwiegend hilflos und dem Thema nicht gewachsen.

Nach Insel, eine Ortschaft in Sachsen-Anhalt, sind zwei von Ihnen ehemals betreute entlassene Sicherungsverwahrte gezogen. Was können Sie über deren weiteres Schicksal sagen?

Die Vorgänge in Insel kenne ich nur aus der Ferne. Die beiden Männer hatten die Situation hier vor Ort in Freiburg für sich als ausweglos und ohne jede Perspektive gesehen. Das war nachvollziehbar. Sie bekamen dann von einem mutigen und hilfsbereiten Bürger aus Freiburg das Angebot, sich in Insel auf seinem Anwesen niederzulassen. Dass sie es dort mit regelmäßigen Demonstrationen der Nachbarn und aggressiven Übergriffen zu tun bekommen würden, hatten sie nicht erwartet. Der Ort und die Umstände um die beiden Männer war regelmäßiges Thema in TV, Funk und Zeitungen. Ruhe, wenn überhaupt ist erst langsam wieder eingekehrt.

Welche positiven, aber auch negativen Erfahrungen haben Sie mit Medien während ihrer Arbeit als Bewährungshelfer gemacht?

Medien interessieren sich nicht häufig für die Themen, die die Bewährungshilfe betreffen. Zum einen kommt das vor, wenn ein unter Bewährungsaufsicht stehender Verurteilter erneut und dann auch noch eine besonders auffällige Straftat begeht. Das Interesse bezieht sich dann vor allem darauf, ob jemandem aus dem Umfeld ein Fehler nachzuweisen ist, ohne den die neue Straftat hätte verhindert werden können.

Ab und zu kam es auch vor, dass an sozialen Themen interessierte Journalisten für Reportagen über Themen um die Klientel von Bewährungshilfe zu Recherchezwecken den Kontakt mit Bewährungshelfer*innen suchten. In manchen Fällen kam das auch zu spannenden Artikeln, wenn beispielsweise der Lebenslauf und Hintergründe eines Verurteilten einmal aus dieser Sicht berichtet wurden.

Bild: Peter Asprion

Welches politische Agieren würde helfen, der Verunsicherung in der Bevölkerung entgegenzuwirken?

Politiker nutzen gerne aktuelle und auffällige Straftaten zu populistischen Attacken. Denken Sie an Konrad Adenauer, der zu seiner Zeit in einem Verein mit dem Ziel der Wiedereinführung der Todesstrafe beteiligt war. Hintergrund waren Morde an Taxifahrern in Köln. Auch ohne Todesstrafe sind solche Taten seither nicht besonders häufig vorgekommen. Oder nehmen Sie das Beispiel von Gerhard Schröder, der einen besonders schrecklichen Fall einer Sexualstraftat zum Anlass nahm, „Wegsperren für immer!“ zu fordern, was letztlich die unrechtmäßige Änderung der Gesetze zur Sicherungsverwahrung nach sich gezogen hat.

Im Grunde wissen wir, dass schlimme Straftaten vorkommen können und werden. Gleichzeitig wissen wir, dass wir in unserem Land so sicher leben, wie es noch nie der Fall war. Einzelne Auffälligkeiten sollten die Politiker nicht zum Anlass nehmen, wilde Forderungen aufzustellen, um sich damit zu profilieren.

Politisch helfen würde eine Umverteilung der finanziellen Mittel. Weniger bis keine Gelder für den Strafvollzug, den man abschaffen sollte. Die freiwerdenden Mittel dann in Erziehung, Kinderschutz und Unterstützung für die Geschädigten von Straftaten zu investieren, wären klare Signale für eine fortschrittliche und humane Politik.

Aber ohne eine Veränderung in der Medienberichterstattung funktioniert das nicht, oder? Handelt es sich doch um einen politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf.

Unsere Medien und ihre Freiheit, über alles kritisch zu berichten, sind ein wertvoller Teil unseres demokratischen Systems. Trotzdem verständigt man sich über Regeln und Gepflogenheiten der Berichterstattung. So wird z.B. in der Regel nicht über Suizide, ob draußen oder in den Haftanstalten, berichtet. Weshalb muss über jede Straftat im Detail berichtet werden? Und dann nochmals detailliert mehrfach über die folgenden Strafprozesse?

Die Medien erzeugen so ein Bild, dass Gewalt und Kriminalität allgegenwärtig wären. Das ist aber ein verzerrtes Bild unserer Wirklichkeit, das Angst macht. Und Angst ist ein schlechtes Lebensgefühl und ein mieser Berater. Leider gilt immer noch der Satz „Sex sells“ und bezieht viele Formen von Kriminalität mit ein. Ich halte es für angebracht, dass Medien nicht nur über Auflagen, sondern auch über Auswirkungen ihrer Berichterstattung reflektieren.

Ist die Welt sicherer, wenn wir einige hundert Menschen länger im Knast lassen, weil Gutachter bescheinigen, sie wären für die Allgemeinheit gefährlich? Oder anders gefragt: Sicherungsverwahrung, ja oder nein?

Eindeutig nein. Die Welt wird nicht dadurch sicherer, dass man einige wenige stellvertretend und symbolisch einsperrt. Nehmen Sie das Beispiel der Sexualstraftaten. Nach Ergebnissen der Viktimologie und der Dunkelfeldforschung wird jede siebte Frau in Deutschland im Lauf ihres Lebens Opfer eines sexuellen Übergriffs. Wenn jeder Täter nur einmal eine solche Tat begehen würde, müssten wir möglicherweise jeden siebten Mann in Deutschland einsperren. Das wären dann etwa fünf- bis sechshunderttausend Männer. In Haft sind derzeit ca. 60.000 Männer, in Sicherungsverwahrung 450. Das heißt, wir leben gut damit, dass ganz viele potenziell gefährliche Menschen unter uns leben. Der Soziologe Heinrich Popitz hat das einmal anschaulich unter der Überschrift „Die präventive Wirkung des Nichtwissens“ beschrieben. Wenn wir eine soziale und humane Gesellschaft sein wollen, liegt die Präferenz eindeutig auf der Seite der Prävention statt der Repression. Und das bedeutet gute soziale Systeme, gute Erziehungsinstitutionen und ordentlicher Kinderschutz.

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