Angst als Herrschaftstechnik

Franzi/ Februar 9, 2020

Beitrag über das Spannungsverhältnis von Demokratie und Kapitalismus

Rezension von Franziska Schneider

Wann hatten Sie das letzte Mal Angst? Wenn Ihnen auf die Schnelle nichts einfällt, dann sind Sie einer der wenigen, die sich nicht von einem befristeten Job zum nächsten hangeln und/oder sehnlichst auf den Bewilligungsbescheid für Sozialleistungen warten. Sie sind dann vermutlich auch kein Verkehrslotse, der bei jedem Wetter an einer viel befahrenen Hauptstraße in den frühen Morgenstunden den Schulweg sichert und sich zum Hartz IV eine Aufwandsentschädigung von 1,50 Euro die Stunde „dazuverdient“. Das sind nur wenige Beispiele des Transformationsprozesses vom Sozialstaat zum neoliberalistisch geprägten Staat. Es sind alles Lebenslagen, aus denen sich Angst nährt und nicht selten zu psychischen Krankheiten führt. Genau daraus erzielt die kapitalistische Demokratie einen Nutzen. Noch schlimmer, diese Angst ist sogar gewollt. Wie Angst in kapitalistischen Demokratien zur Herrschaftstechnik eingesetzt wird, erklärt Rainer Mausfeld in seinem Buch „Angst als Herrschaftstechnik“.

Gewollte Konjunktur der Angst

Seit den 70er Jahren lässt sich eine Erhöhung des Angstniveaus in der Gesellschaft beobachten. Obwohl durch den zunehmenden technischen Fortschritt und die demokratische Gesellschaftsordnung das historisch niedrigste Angstniveau zu erwarten wäre. (Vgl. Mausfeld 2019: 8 ff.) Wieso hat die Angst trotzdem Konjunktur? Die Erzeugung von Angst wird in kapitalistischen Demokratien als Macht- und Herrschaftstechnik benutzt, erläutert Mausfeld.

Angst und Macht sind historisch gesehen schon immer eng miteinander verflochten. Der Neoliberalismus steigert jedoch die Angstformen bis ins Extreme. Mausfeld analysiert dies anhand:

  • der kapitalistischen Lohnarbeit, die keine Existenzsicherung mehr darstellt;
  • einer Meritokratie, die zu einem „unternehmerischen Selbst“ perfektioniert wurde;
  • der Entformalisierung der Rechtssicherheit, die zur „Entkoppelung des Rechts vom demokratischen Prozess und seine Reprivatisierung“ (Mausfeld 2019: 24) führt;
  • der Steigerung der Angst vor fiktiven oder realen Bedrohungen, die zum Sicherheits- und Überwachungsstaat führt. (Vgl. Mausfeld 2019: 24)

Die negativen Folgen des skizzierten Transformationsprozesses bekommen insbesondere die Abgehängten zu spüren. Um diesen Prozess den Bürger zu verschleiern, ist „eine massive Manipulation des Bewusstseins“ (Mausfeld 2019: 11) von Nöten. Besonders effektiv ist dabei die systematische Angsterzeugung. Mit ihr lassen sich Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft stabilisieren. Die Angsterzeugung, ob physisch, psychisch oder strukturell, ist ein arglistiges Mittel der Machtausübung und unterläuft die Demokratie. Denn je mehr Angst erzeugt wird, desto weniger Demokratie ist drin, „weil Angst eine angemessene gesellschaftliche Urteilsbildung blockiert und die Entschluss- und Handlungsbereitschaft lähmt.“ (Mausfeld 2019: 16)

„Angst führt zu einer massiven Verengung des Aufmerksamkeitsfeldes und des Denkens; eine kollektive Angsterzeugung lässt sich daher nutzen, um je nach Bedarf der Machtausübenden Vorgänge für die Öffentlichkeit unsichtbar zu machen. Angst blockiert die Befähigung, aus den eigenen gesellschaftlichen Erfahrungen angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen. Schließlich intensiviert Angst das Bedürfnis nach Spannungsreduktion. Politisch wiederum lässt sich dies sehr wirksam nutzen, um gesellschaftliche Veränderungsenergien auf ‚Ablenkziele‘ zu richten oder um der Bevölkerung durch Konsumismus, Zerstreuung und Unterhaltung Angebote zur Spannungsreduktion zu machen und damit das Ausmaß ihrer Entpolitisierung zu steigern.“

(Mausfeld 2019: 21)

Entformalisierung des Rechts

Bin ich ein „Gefährder“, weil ich vorbestraft bin und es bei einer Teilnahme an einer Demo zu Sachbeschädigungen kommt? Das ist, zugegeben sehr vereinfacht, unter Entformalisierung des Rechts zu verstehen. Wenn das Recht (hier: das Wort Gefährder) wie ein Kaugummi ausgelegt werden kann, dann ist die Demokratie gefährdet. Denn die Demokratie „ist auf ein formal hinreichend klar fixiertes Recht angewiesen, durch das auch bei der Gesetzesanwendung die strikte Bindung aller Staatsapparate an das demokratisch gesetzte Recht garantiert wird.“ (Mausfeld 2019: 27) Ist dies nicht der Fall, dann müssen in konkreten Situationen die Gesetze situativ ausgelegt werden (hier: Was ist ein Gefährder?). Und damit steigt der Einfluss von politischen und ökonomischen Eliten. (Vgl. Mausfeld 2019: 27) Es kommt zudem zur Refeudalisierung des Rechts (vgl. Mausfeld 2019: 30). Mord, Diebstahl, Brandstiftung oder Körperverletzung gelten seit eh und je als Straftaten. Mächtige ökonomische Konzerne (Dieselskandal) oder mächtige Politiker (Maut) kommen nicht selten mit einem blauen Auge davon, obwohl sie Millionen von Steuergeldern in den Sand setzen oder die Umweltschäden ohne Scham vertuschen.

Ideologie der Meritokratie

Meritokratie bedeutet, „dass diejenigen zur Ausübung von Macht legitimiert sind, die sich durch Leistungen ein Verdienst erworben haben.“ (Mausfeld 2019: 35) Was im Kapitalismus als Verdienst verstanden wird, ist offensichtlich: „zur besitzenden und herrschenden Klasse zu gehören“ (Mausfeld 2019: 35) Die Strategie der Meritokratie ist es, zu rechtfertigen, dass Dinge so sind, wie sie sind und nicht anders. Es gibt Reiche und Arme, es gibt Erfolgreiche und Verlierer, es gibt Gut und Böse. „In kapitalistischen Demokratien dient die Ideologie der Meritokratie dazu, den Status quo einer Herrschaft der Besitzenden zu rechtfertigen und die Nicht-Besitzenden zu einer Duldung und Zustimmung zu bringen, indem ihnen die Hoffnung vermittelt wird, dass sie bei genügender Leistung und Anstrengung ihren sozialen Status verbessern könnten.“ (Mausfeld 2019: 36) Die so entstehende Leistungsgesellschaft soll uns glauben lassen, dass die Gesellschaft gerecht sei, wenn Menschen ihre Position durch Leistung und Begabung verbessern.

Verlierer des neoliberalen Transformationsprozesses sind von Scham und Selbstzweifeln befallen. Innerpsychische Spannungen entstehen, weil sie einerseits sich mit den Mächtigen identifizieren und andererseits sich auf Kosten noch Schwächerer psychisch zu stabilisieren versuchen (vgl. Mausfeld 2019: 89 f.). Während die Verlierer und Opfer des Neoliberalismus für ihr Schicksal selbstverantwortlich erklärt werden, sind die politischen und ökonomischen Eliten eher verantwortungslos in Anbetracht der Naturgesetzlichkeit des freien Marktes (vgl. Mausfeld 2019: 90). Schwach und besitzlos ist man durch eigenes Versagen oder Fehlverhalten.

Ziel und Art politischer Kommunikation

Um Angst in der Bevölkerung zu verfestigen, sind Massenmedien unabdingbar. Es gehe, so Mausfeld, nur noch um die Zustimmung des Publikums mittels Kampagnen, die PR-Agenturen erfinden. (Vgl. Mausfeld 2019: 47) So soll der politische Aufruf „Kampf gegen den Terror“ eher Angst erzeugen, um die Gesellschaft für eine bestimmte Politik zu mobilisieren und zu stimulieren.

Schon Neil Postman hat darauf hingewiesen, dass wir uns durch Massenmedien zu Tode amüsieren werden und unsere Meinungsbildungsfähigkeiten, das heißt die Befähigung Positionen und Standpunkte zu entwickeln, dezimiert werden (vgl. Mausfeld 2019: 48). Mausfeld geht darüber hinaus und sagt, dass die politische Funktion von Massenmedien in kapitalistischen Demokratien genau darauf abzielen muss und deshalb die Massenmedien so wichtig für den Erhalt des Status quo sind (vgl. Mausfeld 2019: 48).

„[D](d)er Neoliberalismus [ist] darauf angewiesen, dass die Befähigung blockiert wird, überhaupt noch irgendwelche Überzeugungen ausbilden zu können. Die Befähigung zu einem vernünftigen Denken lässt sich auf relativ elementare Weise schwächen oder gar blockieren. Wenn Wörter semantisch entleert und in ihrer Bedeutung beliebig werden, wenn Sätze nur noch affektive Appelle sind, ohne in argumentative Zusammenhänge eingebettet zu sein, und wenn ein kommunikativer Austausch auf der Grundlage vernunftwidriger Rahmenerzählungen erfolgt, ist einem vernünftigen Denken die Basis entzogen.“

(Mausfeld 2019: 50)

Von Fremd- zu Eigenzwängen – Ideologie des unternehmerischen Selbst

Der Höchstpunkt der Meritokratie und des Neoliberalismus ist die Ideologie des unternehmerischen Selbst. Darin gehen die Ideologie des freien Marktes und des homo oeconomicus ganz im Selbst auf. (Vgl. Mausfeld 2019: 81) Die anfänglichen Fremdzwänge werden in Eigenzwänge internalisiert. Konkurrenzverhältnisse und Profitmaximierung bestimmen das unternehmerische Selbst, das durch Anpassung und Anstrengung auf dem Markt erfolgreich sein will. Es ist nicht verwunderlich, schlussfolgert Mausfeld, „dass diese Entwicklungen mit zunehmenden narzisstischen und Borderline-Störungen, mit Burn-out, schweren Depressionen und Angststörungen einhergehen.“ (Mausfeld 2019: 85) Denn sie widersprechen unserem Selbst.

Fazit: Machtverhältnisse ändern

Ernüchternd hat Mausfeld aufgezeigt, wie das Menschenbild des homo oeconomicus Wirklichkeit geworden ist. Aus der widersprüchlichen Beziehung zwischen Kapitalismus und Demokratie ist ein antidemokratischer Finanzkapitalismus erwachsen. Der Neoliberalismus hebt die Ausbeutung der Vielen zugunsten der Wenigen auf eine neue Stufe. (Vgl. Mausfeld 2019: 98)

Die Versprechen auf Selbstbestimmung, Frieden und Freiheit vor Angst sind nur noch Sprechblasen. Um eine größtmögliche Freiheit von gesellschaftlicher Angst wieder zu gewinnen, müssen wir aus der schwierigen Spirale der Alternativlosigkeit heraus finden. Denn die Gesellschaft ist eher in der Lage sich vorzustellen, dass Pädophile und Vergewaltiger scharenweise übers Land ziehen, als das es ein Ende des Kapitalismus geben könnte. Um diesen Zustand, der Herrschaft mit der Angst, zu verändern, ist nur eines hilfreich: Die Machtverhältnisse müssen geändert werden.

Mausfeld, Rainer (2019): Angst und Macht. Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien. Frankfurt/Main: Westend Verlag.

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